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Schreiben: Tipps & Analysen - Eine Frage der Perspektive # 2

Swantje Niemann • 2. September 2018

Das hier ist mein zweiter Post über Perspektiven. (Wieder eher ein Artikel für Leute, die selbst - und womöglich noch nicht so lange - schreiben).

Während ich in "Perspektiven #1" über die verschiedenen Erzählperspektiven geschrieben habe, soll es hier darum gehen, welche Figuren sich besonders als Perspektivträger eignen und welche Perspektiven besonders gut zu welchen Geschichten passen, aber auch um die Umsetzung.

Welche Erzählweise?
Das hängt davon ab, wie viele Protagonisten ein Buch hat – und das wiederum ist von der Größenordnung der Ereignisse und der Anzahl der handelnden Figuren, die Einfluss auf sie haben/ wichtige Momente mitbekommen, abhängig. Wenn es eine einzige Hauptfigur gibt, durch deren Augen die Figuren alles Wichtige erleben können, würde es sich anbieten, diese zum/r Ich-Erzähler*in zu machen. Ist es wichtig, das Geschehen an verschiedenen Schauplätzen und oder aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten, bieten sich mehrere personale Erzähler an. Setzt man auf ironische Distanz zum Geschehen und die Ironie, die sich daraus ergibt, was Charaktere sagen, während sie etwas völlig anderes denken, könnte ein allwissender Erzähler die Lösung sein.
Mehrere PoV (Points of View) geben auch mehr Kontrolle über das gefühlte Tempo der Handlung – wenn nötig, kann immer zu dem Charakter gesprungen werden, bei dem gerade etwas los ist.

Wer bekommt einen PoV?
Wer zum PoV-Charakter wird, ist eine wichtige Entscheidung, denn sobald eine Figur einen PoV (Point of View) bekommt, fangen Leser*innen an, Erwartungen an diese Figur zu stellen, die sie bei Nebenfiguren nicht haben. Darunter:
- eine vielschichtige Persönlichkeit
- Charakterentwicklung
- eine aktive Rolle, die den Plot beeinflusst
Wenn eine Figur das nicht leisten kann, sondern nur dafür nötig ist, Lesern bestimmte Informationen zu übermitteln, stellt sich die Frage, ob sie wirklich gutes PoV-Charakter-Material ist und ob sich die Informationen nicht besser auf anderem Wege – z.B., indem jemand der Hauptfigur einfach erzählt, was diese wissen muss, oder durch eine Videoaufzeichnung/ per Kristallkugel/ wie auch immer. Unterentwickelte PoV-Charaktere werden mit ziemlich großer Sicherheit als Schwäche des Buches wahrgenommen werden. Das ist auch der Grund, wieso keine Figuren als Perspektivträger eingeführt werden sollten, für deren Entwicklung es nicht genug Raum gibt.
Allerdings gibt es auch hier Ausnahmen, z.B. kurze Kapitel aus der Sicht eines Antagonisten oder eines seiner/ihrer Helfer/innen, die klar machen, dass der Protagonist in Gefahr ist. Aber auch hier stellt sich die Frage, ob sich die betreffende Person nicht doch etwas weiter entwickeln ließe. Hat der Antagonist Zweifel? Was ist sein Motiv?
Falls er geheimnisvoll bleiben soll, ist die Perspektive eines seiner Gehilfen vielleicht besser, allerdings müsste dieser dann auch eine voll entwickelte Persönlichkeit erhalten. Hierin liegt aber auch viel Potenzial, denn er kann sowohl zeigen, was den Antagonisten gefährlich macht (ist er z.B. ein charismatischer Führer, der seine Gefolgsleute immer wieder in seinen Bann zieht und ihre Zweifel an der Rechtmäßigkeit ihres Handelns zerstreut), als auch, welche menschlichen Seiten dieser hat. Oder unser er kann allmählich begreifen, dass er auf der falschen Seite steht und eine große Charakterentwicklung durchlaufen bzw. etwas moralische Ambivalenz schaffen, weil plötzlich nicht mehr alle sympathischen Charaktere auf der einen und alle „bösen“ Figuren auf der anderen Seite stehen.
PoV-Charaktere sollten also auf jeden Fall gut entwickelt sein und wenn für ihre Geschichte nicht genug Raum bleibt oder sie aber droht, von der Haupthandlung abzulenken, stellt sich die Frage, ob sie tatsächlich einen PoV erhalten sollten.
Hierbei spielt der Gesamtumfang des Buches eine Rolle. Brandon Sandersons „Stormlight Archives“-Serie besteht aus mehreren Büchern, die alle mehr als tausend Seiten umfassen. Er kann es sich also leisten, in „Interludes“ seinen Lesern andere Teile der Welt und andere Figuren vorzustellen, weil diese im Verhältnis zu den Haupthandlungssträngen einen so geringen Teil der Handlung einnehmen, dass der Fokus der Geschichte nicht in Frage steht. In einem relativ kurzen Urban-Fantasy-Roman mit einem weniger komplexen Konflikt könnte die Einführung eines weiteren PoV-Charakters und eines neuen Schauplatzes hingegen eine irritierende Ablenkung darstellen.
PoV sollten auch immer den interessantesten Charakteren, denen, die die größten Konflikte erleben, vorbehalten bleiben - es sei denn, der Blick in ihr Inneres würde sie zu menschlich machen. Es gibt Charaktere, die genau deshalb funktionieren, weil wir sie nur durch die ehrfürchtigen Blicke anderer erleben. Ein Beispiel dafür wäre Anomander Rake in den „Malazan Book of the Fallen“-Büchern.
Wenn ein wichtiger Charakter geheimnisvoll oder überlebensgroß erscheinen soll, dann würde ein PoV, der seine schwache, menschliche Seite enthüllt, dieser Wirkung eher schaden. Das gleiche gilt für Charaktere, die sich nur schwer glaubwürdig von innen heraus beschreiben lassen, ohne ihnen dabei ihre Fremdheit zu nehmen, z.B. Figuren die so gut wie gar nichts mit Menschen gemeinsam haben.

Wie viele PoVs?
Das führt wieder zur Frage nach dem Umfang des Buches: Wie vielen Figuren gibt die Handlung Raum, eine befriedigende Entwicklung zu durchlaufen? Ich gehöre zu den Lesern, die gut mit relativ vielen PoVs klarkommen und es genießen, die Handlung aus möglichst vielen verschiedenen Perspektiven zu genießen, viele verschiedene Persönlichkeiten, Orte und Kulturen kennenzulernen.
Allerdings sind Leser da sehr unterschiedlich. Z.B. habe ich schon häufig Facebook-Kommentare in der Richtung gelesen, dass bereits 2 Perspektiven manchen Leser*innen zu viel sind. Vielleicht sind auch die Konventionen und Geschmäcker je nach Genre verschieden: Während mir viele Urban-Fantasy-Romane einfallen, die mit wenigen PoV-Charakteren auskommen (Jim Butchers „Dresden Files“: 1 Ich-Erzähler, Steve McHhughs „Hellequin Chronicles“: 1-2 PoV, Gesa Schwartz‘ „Grim“: 2 PoV, Christoph Marzis „London“: 2 PoV), tendiert High Fantasy, die mein Einstieg in die Literatur war, zu weitaus mehr handelnden Figuren und mehr Erzählperspektiven. Ein berühmtes Beispiel ist George R.R.Martins „Lied von Eis und Feuer“, aber auch Brent Weeks „Lightbringer“-Bücher oder Ken Lius „Seidenkrieger“-Romane haben eine Vielzahl von PoV-Charakteren.
Ich selbst habe in „Drúdir – Dampf und Magie“ tatsächlich 7 PoV-Charaktere. Das sind ziemlich viele für ein Buch von ca 130k Wörtern (was dünn für einen High-Fantasy-Roman ist). Andererseits verbringen sie viel Zeit miteinander, sodass ich in einer Szene oft mehr als einen Charakter weiterentwickeln kann.
Jede dieser Figuren hat ein oder zwei Puzzleteile, die zusammen die Handlung ergeben. Oft sind sie allein und finden z.B. etwas Wichtiges heraus, aber es gibt auch Szenen, in denen mehrere von ihnen anwesend sind und Leser*innen abgleichen können, wie sie sich selbst sehen und wie sie nach außen hin wirken.
Es ist mir wichtig, meinen Antagonisten ebenfalls Stimmen zu geben, weil ich mir Sorgen mache, dass Konflikte sonst zu einseitig wirken. Darüber hinaus erlaubt mir das, die Bedrohung durch sie zu etablieren, auch wenn die Protagonisten deren Ausmaß noch nicht kennen.

PoV-Charaktere einführen
Ich versuche immer, alle meine PoV-Charaktere so früh wie möglich einzuführen. Allerdings nicht um jeden Preis, denn ich glaube, dass die Wahrnehmung, dass eine Geschichte zu viele Protagonisten hat, weniger mit deren tatsächlicher Anzahl zusammenhängt als vielmehr damit, wie sie eingeführt werden.
Ein Beispiel: „Wächter und Wölfe“ von Anna Stephens hat andere Stärken (gerade die dramatische, schonungslose Action), aber ich finde dort z.B. den Umgang mit der Vielzahl an PoV-Charakteren nicht so gelungen – binnen kürzester Zeit lernen wir einen Haufen Leute kennen, die teilweise nur 3-seitige Kapitel haben, bevor die Handlung zur nächsten Figur springt. Ich hatte zuerst Schwierigkeiten, mich zu orientieren, und, noch schlimmer: Ich habe fast das halbe Buch gebraucht, um echtes Interesse für die Figuren aufzubringen, weil ich erst spät das Gefühl hatte, sie wirklich kennengelernt zu haben.
Also sollte sich die Handlung immer erst dann zur nächsten Figur weiterbewegen, wenn die Leser*innen Gelegenheit gehabt haben, eine Beziehung zum aktuellen Charakter aufzubauen.
Gerade in High Fantasy ist es typisch, dass sich die Hauptfiguren alle an verschiedenen Orten befinden und ihre Handlungsstränge schließlich konvergieren. In dem Fall lernt man sie notwendigerweise erst durch ihre eigenen Augen kennen. Aber manchmal beginnen Figuren eine Geschichte auch am selben Ort und dann stellt sich die Frage, wie man sie einführt. Sehen wir sie zuerst durch die Augen einer anderen Figur, die womöglich ein verzerrtes und unvollständiges Bild von ihnen hat – oder aber sehr präzise einen Aspekt eines Charakters sieht, den dieser (und vielleicht auch die Leser*innen) lieber ignorieren?

Anwendung von Perspektive, um die Dinge so richtig schön zu verkomplizieren
Ein Beispiel (auch wenn hierbei ein Wegwerf-PoV, etwas, wovon ich sonst abraten würde, ins Spiel kommt):
Im ersten Perspektiven-Post habe ich über das Problem geschrieben, dass die epische Szene aus der Sicht des handelnden Charakters vielleicht gar nicht so episch ist, weil er/sie zu beschäftigt mit Überleben ist, um sich um die eigene Außenwirkung zu kümmern. Was also, wenn wir ihn/sie durch eine Nebenfigur zeigen – aber eine, auf der gegnerischen Seite, die beiläufig von ihm/ihr aus dem Weg geräumt wird, und unsere Hauptfigur mit Hass und Angst betrachtet.
Es gibt dieses geflügelte Wort darüber, dass jeder Bösewicht der Held seiner eigenen Geschichte ist, aber ebenso kann man über viele Protagonisten mit Recht sagen, dass sie die Bösewichte einer anderen Geschichte darstellen. Und das ist etwas, was sich auf ziemlich interessante Weise erkunden lässt. Auf jeden Fall würde es erlauben, die Hauptfigur auf eine Weise einzuführen, die beim Publikum ambivalente Gefühle auslöst – das ist zwar nicht immer beabsichtigt, aber wäre gerade für Romane mit Anti-Helden und mehreren Graustufen eine interessante Strategie.
Ein interessantes (wenn auch untypisches) Beispiel dafür, wie man Figuren erst aus einer anderen und dann aus ihrer eigenen Perspektive kennenlernen kann, ist Mary Shelleys „Frankenstein“ mit seiner dreistufigen Erzählung:
1. Walton findet bei einer Arktisexpedition einen geheimnisvollen, schwerverwundeten Mann – er und Leser*innen sind gleichermaßen fasziniert
2. Der Mann – Viktor Frankenstein – erzählt seine Geschichte: Wir lernen ihn kennen und die entsetzliche Gestalt, die er erschafft und die ihn verfolgt. Waltons positive Einschätzung von Viktors Charakter wird in Frage gestellt.
3. Die Kreatur erzählt Viktor ihre Geschichte und plötzlich erscheinen die Ereignisse in einem ganz anderen Licht.
Durch diese Erzählweise müssen Figuren und Leser*innen gleichermaßen ihr gefasstes Urteil immer wieder revidieren. Und das ist einer der Gründe, wieso ich dieses Buch so mag.
Es gibt auch Bücher, die ihre Hauptfigur durchgängig aus der Sicht eines Nebencharakters zeigen – eben um einen geheimnisvollen, überlebensgroßen Charakter haben zu können. Beispiele wären Jeff Salyards‘ „Tanz der Klingen“ oder, ganz klassisch, Arthur Conan Doyles „Sherlock Holmes“.

Zusammenfassung
1. Die Zahl der PoV-Charaktere sollte dem Umfang und der Komplexität des Buches entsprechen & es ist wichtig, Leser nicht gleich mit einer Vielzahl von Charakteren zu bombardieren, die sie gar nicht richtig kennenlernen können
2. Mehrere PoV-Charaktere erlauben es, mehr Facetten einer Welt/ eines Konflikts zu zeigen
3. der Preis für 2. ist aber eventuell, dass man weniger tief in die Erkundung eines Charakters einsteigen kann
4. Ein PoV bringt einen Charakter den Lesern näher, aber kann auch dazu führen, dass die Figur weniger beeindruckend und ikonisch wirkt. Außerdem kann ein PoV-Charakter schwerer Geheimnisse vor dem Leser haben.
5. geschicktes Spiel mit Erzählperspektiven kann helfen, ein differenziertes Bild eines Charakters zu zeichnen und die Leserschaft zum Nachdenken anzuregen.

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Ich habe in der ersten Jahreshälfte wieder einige Buchentdeckungen gemacht. Hier ist ein Zwischenbericht: Fantasy Blood over Bright Haven von M.L. Wang erzählt mit großer emotionaler Intensität die Geschichte der brillanten, ehrgeizigen Magierin Sciona, die sich in einer feindseligen Universität durchsetzen muss – und über eine Wahrheit stolpert, welche ihr gesamtes Weltbild ins Wanken bringt. Das Buch ist nicht subtil in seinen Aussagen zu Rassismus und Sexismus, aber sie sind interessant und komplex genug (z.B. was das Ineinandergreifen von Rassismus, Sexismus, Klassismus und die sehr engen Grenzen des Feminismus der Hauptfigur betrifft), dass das nicht negativ ins Gewicht fällt.  Robert Jackson Bennetts The Tainted Cup verbindet gleich mehrere Genres: High Fantasy mit originellem Worldbuilding trifft hier auf einen klassischen Krimi-Plot mit einem exzentrischen Ermittler*innen-Duo, während im Hintergrund eine Katastrophe abgewendet werden muss. Das Resultat ist originell und sehr zufriedenstellend. Mit The Book that Wouldn’t Burn beginnt Mark Lawrence eine neue Trilogie, die gut genug geschrieben ist, um mich darüber hinwegsehen zu lassen, dass einige Elemente des Plots (z.B. Zeitreisen) eigentlich gar nicht mein Ding sind. Das Setting ist eine gigantische Bibliothek, die Fokus eines uralten Streits um das zweischneidige Schwert des Wissens ist. Was mich überrascht hat: die überraschend süße Liebesgeschichte, die eine große Rolle für den Roman und seinen Folgeband spielt. Urban Fantasy Naomi Noviks Scholomance -Trilogie ist eine kurze YA-Reihe, die auch erwachsene Leser*innen überzeugen kann. Sie wartet mit einer originellen Variante einer Zauberschule und einer Protagonistin auf, die äußerst schlecht gelaunt das Richtige tut und deren Erzählstil die düsteren Aspekte des Settings auf Distanz hält. Das besondere an der Reihe ist, dass sie ihre Figuren nicht wirklich gegen Antagonist*innen, sondern gegen ein systemisches Problem arbeiten – und dass es, was bei solchen Ausgangssituationen nicht sehr häufig ist, trotzdem eine optimistische Geschichte ist. In Ink Blood Sister Scribe von Emma Törsz geht es um zwei Halbschwestern, deren Leben auf sehr verschiedene von der Sammlung magischer Bücher bestimmt wird, die ihre Familie hütet. Das Buch beginnt, als sie sich nicht länger vor ihren Gegenspieler*innen verbergen können. Das Figurenensemble ist klein und statt einer ausgreifenden verborgenen Welt gibt es hier nur einige wenige übernatürliche Elemente. Figuren und Magie sind aber sorgfältig ausgearbeitet und greifen gut ineinander. Ink Blood Sister Scribe nimmt sich viel Zeit für atmosphärische, präzise Beschreibungen. Es ist auch mal wieder original deutschsprachige Fantasy dabei: Noah Stoffers reiht sich mit A Midsummer’s Nightmare in die Reihe der Autor*innen ein, die den Dark-Academia-Trend aufgreifen. Protagonist*in Ari muss die übernatürlichen Geheimnisse einer elitären, altehrwürdigen Universität erkunden, bevor diese Ari und Aris Freund*innen gefährlich werden. Stoffers setzt aus anderen Büchern des Subgenres wie zum Beispiel „Das neunte Haus“ bekannte Elemente gekonnt um (z.B. auch das Topos marginalisierter Figuren, die Außenseiter*innen in einer Hochburg alter Privilegien sind). Sier ergänzt eine großzügige Prise originelles Worldbuilding und stellt eine nicht-binäre Figur ins Zentrum, was insbesondere in der deutschsprachigen Phantastik bisher ziemlich selten ist. Das fügt sich alles zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Science Fiction Mit Arboreality hat Rebecca Campbell einen berührenden Roman aus ineinandergreifenden Geschichten geschrieben, in denen Menschen und Bäume die Klimakrise überdauern. Sie schildert eine nahe Zukunft voller Melancholie und Hoffnung. Weitaus bissiger geht es in Venomous Lumpsucker von Ned Beauman zu. Der Near-Future-Roman denkt Trends der Gegenwart weiter und fügt sie zu einem temporeichen Thriller rund um Umweltzerstörung und den Verlust von Artenvielfalt zusammen, mit einer Menge gezielter Seitenhiebe und dunkler Situationskomik. Exordia von Seth Dickinson ist ein abgedrehter First-Contact-Roman, der wild Genres mixt und seine Figuren immer wieder vor moralische Dilemmata stellt – inklusive der Entscheidung über das Schicksal der Erde. Humor, Schrecken und emotional berührende Momente liegen hier dicht beieinander. Das Buch greift auch die Geschichte der Kurden und amerikanischer Interventionen im Nahen Osten auf. Ich bin endlich dazu gekommen, Machineries of Empire von Yoon Ha Lee zu beenden. Dabei handelt es sich umi eine Science-Fantasy-Trilogie rund um ein interstellares Imperium, in dem Mathematik und Rituale die Realität verändern können und die Funktion von Technologie vom Einhalten des imperialen Kalenders abhängt. Wer sich auf die steile Lernkurve des Buches einlässt, wird mit einer mitreißenden Geschichte, einer farbenprächtigen Welt, relevanten Themen und charismatischen Figuren belohnt (insbesondere Shuos Jedao, der untote General, der eine Schlüsselrolle für die Bücher spielt).
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Es geht um Krebsmagie, um Imperialismus, Kolonialismus und Widerstand, und um eine faszinierende, zerrissene Hauptfigur, die viel(e) opfert, um ein Imperium zu Fall zu bringen. Der Weltenbau ist originell und komplex, die Auseinandersetzung mit Imperialismus und Kolonialismus tiefer, als ich es von dem Genre gewohnt bin. Ähnlich explizit anti-imperial geht es in „Babel“ von R.F. Kuang zu (tatsächlich hätte die Autorin dem Publikum hier und da ein bisschen mehr darin vertrauen können, dass es angesichts der geschilderten Ereignisse schon zu den gleichen Schlüssen kommt wie sie). In einem alternativen magischen Oxford des 19. Jahrhunderts findet der junge Übersetzer Robin intellektuelle Herausforderungen, Luxus und Freundschaft – vorausgesetzt, er spielt weiter brav seine Rolle als Handlanger eines Imperiums, das auf ihn angewiesen ist, aber ihm echte Zugehörigkeit verweigert. Schließlich erreicht Robin einen Punkt, an dem er eine Entscheidung treffen muss. Ein wütendes, mitreißendes Buch voller Wissen zu Geschichte und Linguistik (bei dem ich bei allen seinen Stärken allerdings kritisieren würde, dass bestimmte Figuren sich eher wie Werkzeuge, um bestimmte Punkte zu illustrieren, als wie dreidimensionale Persönlichkeiten anfühlen – Robins Charakterisierung ist jedoch gut gelungen). Außerdem konnte ich eines meiner großen Leseprojekte beenden: Ich habe nun alle zehn Bände des „Malazan Book of the Fallen“ gelesen. Es handelt sich um eine Buchreihe, die eine unglaubliche Bandbreite an Figuren, Schauplätzen, Plots, Registern und Themen abdeckt. Wie in einer so vielfältigen Reihe manchmal nicht anders zu erwarten, konnte ich mit einigen Abschnitten mehr anfangen als mit anderen. Aber die emotionalen Momente sind kraftvoll, die heraufbeschworenen Bilder episch und die Themen der Bücher sehr relevant. Malazan lesen fühlt sich manchmal ein bisschen wie Arbeit an, aber wie Arbeit, die es absolut wert ist. Manchmal scheuen Autor*innen davor zurück, Figuren mit marginalisierten Identitäten moralisch graue oder auch nur unsympathische Züge zu geben. In „Sanguen Daemonis“ ist das nicht der Fall. Anna Zabinis sehr diverses Figurenensemble steckt voller innerer und äußerer Konflikte, und hinzu kommt ein Setting voller Paranoia und Düsternis. Der dystopische Urban-Fantasy-Roman ist antichronologisch erzählt und ist insgesamt angenehm ehrgeizig. „Das Rot der Nacht“ von Kathrin Ils ist ein solider, in sich geschlossener Roman mit einem atmosphärischen, mittelalterlich inspirierten Setting. In der klaustrophobischen Atmosphäre eines von Misstrauen erfüllten Dorfes muss die Protagonistin, Belanca, mit einer sehr gefährlichen Situation umgehen. Im Zuge dessen stellt sie fest, dass mehr in ihr steckt, als erwartet. Science-Fiction Ich bin durch einen Artikel namens „The Edgy Writing of Blindsight“ auf Peter Watts Roman gestoßen und auch wenn ich nachvollziehen kann, wieso die Verfasserin nichts mit dem Buch anfangen konnte, war meine Neugier durch die Zitate geweckt – und ich bin froh darüber, das Buch gelesen zu haben. „Blindsight“ ist ehrgeizig, vollgestopft mit Ideen und eine ebenso düstere wie hypnotische Kombination aus Science Fiction und Cosmic Horror. Das Buch wartet mit einem kühnen Gedankenexperiment zu Intelligenz und Bewusstsein und mit einer starken zentralen These auf, der man nicht zustimmen muss, um etwas von dem Buch zu haben. Ich verstehe das Worldbuilding von „Ninefox Gambit“ zugegebenermaßen immer noch nicht komplett, aber diese Welt mit einem Imperium, dass einen speziellen Kalender befolgt und verteidigt und Macht aus diesem zieht, ist ebenso überwältigend, wie sie spannend ist. Darüber hinaus ist das Buch spannend, gut geschrieben und wartet mit einer außergewöhnlichen Figurenkonstellation (die Hauptfigur trägt den Geist eines vermeintlich wahnsinnigen Generals mit sich) und einigen überraschenden Wendungen auf. „The Light Brigade“ ist gritty, gesellschaftskritisch und hat mir gefallen, obwohl ich überhaupt kein Fan von Zeitreisegeschichten bin. In einer dystopischen Zukunft kämpfen hier Soldat*innen, die sich in Licht auflösen, um sich dann wieder an ihren Einsatzorten zu manifestieren, gegen einen mysteriösen Feind. Aber schnell bekommt die Protagonistin das Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Kameron Hurley hat ein spannendes, wütendes Buch voller einprägsamer Zitate geschrieben. „Dem Blitz zu nah“ ist vielleicht eher interessant, als dass das Buch Spaß macht – aber dafür ist es wirklich sehr interessant. Ada Palmer entwirft eine Zukunft, in der nicht nur Technologien, sondern auch zum Beispiel der Umgang mit Geschlecht, mit „nationaler“ Zugehörigkeit und vielem mehr radikal geändert haben. Ein Protagonist mit einer sehr dunklen Vergangenheit erzählt unter zahlreichen Bezügen auf die Zeit der Aufklärung von der Verschwörung, die sich unter dem scheinbar utopischen Frieden der „Hives“ verbirgt. Wirklich utopisch geht es in „Pantopia“ zu – allerdings ist der Weg zu der Welt, in der die Menschenrechte das oberste Gebot und ethische Entscheidungen deutlich leichter sind als in der Gegenwart, holprig und voller Ungewissheiten. Und genau über diesen erzählt Theresa Hannig gekonnt. Sie erzählt von überzeugend gezeichneten Figuren, von moralischen Kompromissen und zweiten Chancen, und nicht zuletzt radikal hoffnungsvoll. „How High We Go in the Dark” habe ich quasi zusammen mit einem Buchclub gelesen – allerdings sind einige der Lesenden zwischendrin ausgestiegen und auch ich hatte Schwierigkeiten, das Buch zu beenden. Das liegt aber keineswegs daran, dass Sequoia Nagemutsus ineinander verflochtene Geschichten schlecht wären, sondern vielmehr daran, wie bedrückend nah sich der Roman anfühlt. Es geht um eine Pandemie, Klimawandel und das oft vergebliche Bemühen, geliebte Menschen zu beschützen. In diesem Roman bricht der oft verdrängte Tod mit solcher Macht wieder in unsere Gesellschaft ein, dass den Figuren nichts anderes als eine kollektive Auseinandersetzung damit – und damit, was sie verbindet – übrigbleibt. Sachbuch „Faultiere - Ein Portrait“ von Tobias Keiling, Heidi Liedke und Judith Schalansky (Hg). konnte mich mit seinem originellen Konzept und einer Menge neuem Wissen beeindrucken. Das Buch stellt quasi eine kurze Rezeptionsgeschichte des Faultiers dar, eine Geschichte der Projektionen auf dieses ungewöhnliche Tier, die wiederum viel über die Betrachtenden verraten. In „Entstellt“ von Amanda Leduc verbindet die Autorin autobiografisches Schreiben mit einer Analyse der Darstellung von Menschen mit Behinderungen oder Entstellungen in Märchen und moderner Popkultur.
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