Romane können eine Menge Informationen transportieren, bevor die eigentliche Geschichte losgeht (zum Beispiel in Karten der Schauplätze oder dem Vorwort eine*r fiktiven Herausgeber*in) – und vor kurzem bin ich auf ein neues Beispiel dafür gestoßen: Die Titelblätter der „Terra Ignota“-Tetralogie von Ada Palmer. Ich muss zugeben, dass ich das Titelblatt des ersten Buchs vor dem Lesen erstmal nach einem kurzen Blick überblättert hatte, aber später ist mir klar geworden, wie viel Information dieses eigentlich transportiert. Also, willkommen zu einem Artikel, der eine Lupe über circa fünf Buchseiten hält.
Achtung: Es gibt Spoiler für die grobe Entwicklung des Settings und politischen Hintergrunds der Serie.
Eine kurze Hintergrundinfo zu „Terra Ignota“: Es handelt sich um eine Science-Fiction-Tetralogie voller interessantem sozialem Worldbuilding, philosophischen und mythologischen Einflüssen. Alle vier Bücher beginnen mit einem intradiegetischen Titelblatt, das den jeweiligen Roman als einen innerhalb des Universums existierenden Text ausweist.
Das Titelblatt von Band eins, „Dem Blitz zu nahe“, enthüllt, dass die Schilderung Ereignisse im Jahr 2454 abgdeckt, „auf Wunsch bestimmter Personen“ verfasst und ihre Veröffentlichung durch mehrere Stellen abgesegnet wurde. Auch die Figur des*der Anonymnin* wird eingeführt, weil diese*r eine Empfehlung für das Buch ausspricht.
Die Veröffentlichungsfreigaben führen bereits mehrere wichtige Organisationen des Settings ein und auch die Vielsprachigkeit der Welt von Terra Ignota wird bereits angedeutet – Teile des Textes sind auf Latein oder Französisch verfasst. Dass der Text mit dem Einverständnis aller dargestellten „freien und unfreien Personen“ freigegeben wird und dass auch die Cousins-Kommission für den humanen Umgang mit Diensterninnen*, ist auch schon ein interessantes Stück Worldbuilding: Es gibt unfreie Menschen, aber gleichzeitig wird darauf geachtet, dass bestimmte Rechte von diesen gewahrt bleiben. Außerdem haben alle dargestellten Figuren der Veröffentlichung zugestimmt – was angesichts des später folgenden Texts schon ziemlich interessant ist. Was auch bereits auffällt, ist die geschlechtsneutrale Sprache. *Die Endung "-nin" ist die Übersetzungslösung, welche Übersetzerin Claudia Kern für die neutralen Endungen und Pronomen gefunden hat, welche der Großteil der Buchfiguren verwendet.
Es folgt die Einordnung des Textes als „garantiert nicht bekehrend“, was auch ein wichtiger Einblick in den Umgang mit Religion in dem Setting ist. Die „Inhaltsfreigabe der gordischen Kommission“ gibt ebenfalls Einblick in die Tabus und Sorgen der Kultur, in deren Rahmen der Text entstanden ist. Neben Warnungen rund um Sex, Gewalt und beleidigende Inhalte, wie wir sie auch aus zeitgenössischen Content Notes kennen, wird auch hier wieder die Diskussion religiöser Inhalte als etwas behandelt, wovor Lesende gewarnt sein wollen.
Gleichzeitig fungiert die Inhaltsfreigabe auch als an die externen Lesenden gerichtete Content Notes – die Warnung zum Thema Gewalt zum Beispiel ist sehr angebracht und bereitet Lesende auf eine Enthüllung vor, die vor dem Hintergrund des eigentlich recht friedlichen und stabilen Settings, in das wir zunächst eingeführt werden, doch ziemlich heftig einschlägt.
Der Fakt, dass das Titelblatt überhaupt existiert und deutlich macht, dass eine Absicht hinter der Veröffentlichung steckt und dass das Manuskript durch mehrere Hände gegangen ist, bereitet Lesende darauf vor, den Text als das Werk eines unzuverlässigen Erzählers und womöglich als Propaganda zu lesen. Die Frage kommt auf: Welche Änderungen oder Auslassungen haben sich die dargestellten Personen womöglich im Austausch gegen ihre Veröffentlichungserlaubnis gewünscht?
Während das Titelblatt des zweiten Bandes, „Sieben Kapitulationen“ relativ ähnlich ist – mit Ausnahme der Empfehlung, die durch ein sehr bedeutungsvolles anderes Zitat ausgetauscht wurde – sieht es im dritten Band, „Der Wille zum Kampf“ ganz anders aus: Der Text ist nun streng geheim und statt Freigaben zu erteilen, benennen die verschiedenen Institutionen, unter deren Aufsicht das Werk entstanden ist, nun die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, bevor es an die Öffentlichkeit gehen kann. Welche Bedingungen das sind, liefert einige Vorausdeutungen für die weiteren Ereignisse, aber auch wieder einen kleinen Einblick in die Kultur und Struktur der Leute und Organisationen hinter den Geheimhaltungsgeboten. Teilweise wird die Geheimhaltung begründet und die Einleitung endet schließlich mit einer Androhung von Konsequenzen für eine illegale Betrachtung oder Veröffentlichung, die sehr „in character“ für die Institution ist, die sie ausspricht. Es wird sehr deutlich: Die friedliche Welt der ersten beiden Bände existiert nicht mehr.
Der vierte Band, „Perhaps the Stars” (noch nicht auf Deutsch erschienen) hat schließlich statt einem offiziellen Titelblatt ein kurzes, informelles Vorwort, das auch wieder Vorausdeutungen liefert, aber auch den Zerfall der alten Ordnung spiegelt. So erzählen die Titelblätter allein schon für sich genommen eine Geschichte. Rückblickend nach der Lektüre aller vier Bücher weiß ich das als ein weiteres spannendes und clever gemachtes Detail der Serie zu schätzen. Es erinnert mich ein bisschen an das „environmental storytelling“ von Filmen und Spielen.
Apropos rückblickend: „Terra Ignota“ ist nicht die zugänglichste Buchserie, aber die Lektüre lohnt sich. Ich empfehle, Band eins und zwei dicht nacheinander zu lesen und drei und vier vielleicht auch. Es gibt eine Vielzahl von handelnden Figuren und es ist leicht, den Überblick zu verlieren, aber Lesen und Wieder-Lesen wird von der Reihe reich belohnt.