


Ich habe dieses Jahr wieder eine Menge guter Bücher gelesen. Hier sind ein paar Empfehlungen.
Sachbücher
„Dress Codes“ beleuchtet die Geschichte von Mode und ihre enge Verflechtung mit Ideen über Geschlecht, Zugehörigkeit und Status über mehrere Jahrhunderte hinweg bis in die Gegenwart hinein. Detailreich, unterhaltsam und aktuell enthüllt das Buch spannende Details über den Alltag in der Vergangenheit und Gegenwart und ordnet diese in einem größeren historischen Kontext ein. Besonders interessant fand ich unter anderem den Teil über die symbolische Rolle der Kleidung Schwarzer Aktivist*innen in der USA in der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart.
“Spare Parts” ist ebenfalls ein Buch, das einen bestimmten Gegenstand über mehrere Epochen hinweg begleitet. In diesem Fall geht es um die Geschichte der Transplantationschirurgie, die überraschend früh ihren Anfang nahm. Craddock erzählt von der Weiterentwicklung des Wissenstands über und der technischen Möglichkeiten für Transplantationen und beschreibt ihre Wechselwirkung mit dem Blick, den Menschen auf ihre Körper haben.
„Fifth Sun“ war ein interessanter Einblick in ein Thema, mit dem ich mich bisher kaum auskannte: Die Geschichte der Mexíca (Fremdbezeichnung: Azteken) vor und nach der Eroberung durch Spanien. Townsend nutzt als Grundlage ihrer Darstellung Texte, die von von Mönchen ausgebildeten Mexíca verfasst wurden, also lateinische Schrift und die historiografische Tradition der Mexíca zusammenführen.
“The Verge” erzählt die Geschichte Europas im Zeitraum von 1490 bis 1530 und hebt diesen als wichtigen Wendepunkt der Weltgeschichte hervor. Anhand von zehn historischen Figuren schreibt Wyman über Buchdruck, Globalisierung, Steuern, Religion und vieles mehr. Bei den Figuren handelt es sich um Herrscher*innen und „Entdecker“ ebenso wie um Kaufleute oder Buchdrucker. So entsteht ein spannendes, zugängliches Buch, das großen Zusammenhängen greifbare Gesichter gibt. Die eigentliche Hauptfigur von „The Verge“ ist mehr oder weniger das Kapital.
“Open Veins of Latin America” ist ein Klassiker zum Thema Kolonialismus. Der Autor erzählt darin wütend und detailreich von der Ausbeutung Lateinamerikas. Die genaue Gestaltung der Einflussnahme anderer Länder habe sich mit der Zeit geändert, die fehlende Selbstbestimmung und der Abfluss wichtiger Ressourcen nicht.
Mithu Sanyals Buch bietet eine lesenswerte Perspektive auf Emily Bronte und ihren Klassiker „Sturmhöhe“. Es geht sowohl um die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des Buches als auch um Sanyals persönlichen Zugang dazu. Definitiv bereichernde Lektüre.
„Alleiner kannst du gar nicht sein“ ist eine Serie von interessanten Einblicken in die Lebenswelt von Abgeordneten – darüber, wie Abläufe im Bundestag funktionieren, mit welchen Privilegien und Belastungen die Tätigkeit als Abgeordnete*r einhergeht und wie schwer es sein kann, anschließend wieder in den Alltag zurückzufinden. Neben den teilweise sehr persönlichen Portraits liefert das Buch auch eine Menge Information über die Institutionen der deutschen Politik.
Thomas Piketty wollte mit “Eine kurze Geschichte der Gleichheit“ ein zugängliches Buch über (Un)Gleichheit schreiben und das ist ihm gut gelungen. Das Buch liefert eine spannende historische Betrachtung von lang nachwirkenden Ungerechtigkeiten ebenso wie überraschenden Entwicklungssprüngen, was Gleichheit und politische Teilhabe betrifft. Darüber hinaus macht Piketty konkrete Vorschläge für die Zukunft.
Dieses Jahr habe ich mit „Priest of Gallows“ und „Priest of Crowns“ die letzten beiden Bände der „War for the Rose Throne“-Reihe gelesen. Die Grimdark-Tetralogie um einen Gangster-Boss, der mehr und mehr in die höchsten politischen Zirkel seines Landes hineingezogen wird, überzeugt vor allem durch die unverkennbare Stimme des Protagonisten und Ich-Erzählers. Seine Persönlichkeit durchdringt jede Zeile – und alles, was zwischen den Zeilen steht.
Ich bin 2023 auch endlich dazu gekommen, Max Gladstones „Craft Sequence“ zu Ende zu lesen. Die Serie aus sechs ineinander verflochtenen Romanen schildert eine von Magie und den Kräften von Gottheiten durchdrungene Welt, die sich trotzdem in mehrfacher Hinsicht analog zu unserer entwickelt hat. Bildgewaltig erkundet sie Kompromisse und Widerstand in einer von ökonomischer Ungleichheit und mächtigen Institutionen geprägten Welt.
“And then I Woke Up” ist eine clevere Horrornovelle, die dem Subgenre der Zombie-Epidemie einen ungewöhnlichen Twist gibt. Ich will ihn nicht vorwegnehmen, aber er ermöglicht es der Geschichte, aktuelle Themen wie drastisch divergierende, manchmal komplett unvereinbare Wahrnehmungen der Realität in verschiedenen Bubbles und deren gefährliche Auswirkungen zu beleuchten. Auf der persönlichen Ebene geht es viel darum, wie Figuren mit ihrer Schuld umgehen.
Ein weiterer Roman, den ich dieses Jahr sehr gerne gelesen habe, ist Christopher Buehlmanns „Tale of Medieval Horror“, in dem ein gefallener Ritter sich plötzlich als Beschützer eines Mädchens mit einer göttlichen Mission wiederfindet, während das Land um sie herum nicht nur von der Pest, sondern auch von übernatürlichen Übeln heimgesucht wird. Darunter sind Monster, die ich mir tatsächlich gut in den Marginalia eines mittelalterlichen Manuskripts vorstellen könnte. „Between Two Fires“ ist düster und geht stellenweise sehr brutal mit seinen Figuren um, aber hat einen hoffnungsvollen, versöhnlichen Kern. Ich habe beim Lesen mit den Figuren mitgefiebert und ihnen ein Happy End gewünscht.
“Spaceman of Bohemia” ist ein kurzer, literarischer Science-Fiction-Roman über einen tschechischen Astronauten, der ein merkwürdiges Phänomen im Weltall erkunden soll. Die Erzählung seiner Erlebnisse im Weltraum ist eng verflochten mit seiner Familiengeschichte und der Geschichte seines Landes. Es geht um Schuld und nationale Identität und vieles mehr und stellenweise bleibt mehrdeutig, was nun wirklich passiert. (Überraschenderweise soll nächstes Jahr eine Netflix-Filmadaption für das Buch herauskommen, womit ich angesichts der teilweise sehr introspektiven Natur des Ganzen nicht gerechnet hätte).
“The Empress of Salt und Fortune” ist eine ruhige Novelle, die auf ihrer kurzen Seitenzahl viel Atmosphäre, Spannung und interessante Figurencharakterisierung mitbringt. Kleriker*in Chih interviewt darin eine Frau, deren Geschichte eng mit der einer berühmten Kaiserin verwoben war, und erfährt eine überraschende Enthüllung nach der anderen. Die Geschichte entfaltet sich in einem spannenden, ostasiatisch inspirierten Setting.
Horror ist nicht das einzige Genre, in dem ich dieses Jahr mehr als sonst gelesen habe. Ich habe auch mal in Fantasy-Romance reingeschnuppert. Viele Bücher des Genres sind eher nicht mein Ding, aber T. Kingfishers „Saint of Steel“-Series war eine echte Entdeckung. In den Büchern geht es um die letzten Überlebenden eines Ordens von Paladinen, die ihren Gott verloren haben und nun desorientiert nach ihrem Platz in der Welt suchen.
Nacheinander finden sie neue Partnerschaften. Der Weg dahin ist aufgrund der Selbstzweifel der Figuren manchmal unnötig lang, aber alle Paare in der Reihe sind liebevoll geschrieben und es ist absolut glaubwürdig, dass sie sich ineinander verlieben. Es gibt viele witzige Dialoge und der „Order of the White Rat“, dem einige sehr coole Nebenfiguren angehören, ist eine Institution, wie sie in Fantasy-Romanen selten im Rampenlicht steht: eine Fraktion von Leuten, die langsam, stetig und pragmatisch Dinge um sich herum verbessern.
Shida Bazyar erzählt in “Drei Kameradinnen“ die Geschichte dreier sehr verschiedener Freundinnen – und thematisiert durch die Ich-Erzählerin neben Themen wie Migrationsgeschichte, Gentrifizierung, Rassismus, Klassismus, Traumata, Freundschaft und Solidarität auch immer wieder den Akt des Erzählens an sich.
“The Mask of Mirrors” geht es um Ren, die sich vor dem Hintergrund eines schillernden, gut entwickelten Settings den Weg in eine Adelsfamilie erschwindeln will und dabei in ein sehr gefährliches politisches und magisches Ränkespiel verwickelt wird. Es dauert nicht lange, bis man beim Lesen mit den verschiedenen Figuren mitfühlt und sich fragt, welche Geheimnisse sie alle verstecken. Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir das liebevolle Worldbuilding mit einem besonderen Fokus auf den beiden Kulturen, die sich die Stadt teilen, in der das Buch spielt.
Brian McClellan übernimmt für “In the Shadow of Lightning” eine Menge Dinge, die bereits in den Powder-Mage-Büchern gut funktioniert haben wie zum Beispiel die verschiedenen PoV-Figuren mit jeweils verschiedenen Spezialisierungen, durch die viel Abwechslung in die Geschichte kommt. Wieder spielt ein neu ausgedachtes Magiesystem eine große Rolle, aber nie zu dem Punkt, wo es interessantere Elemente der Handlung oder Charakterisierung der Figuren verdrängt. Ein paar Punkte, die mich besonders angesprochen haben, war, wie gut die Figuren zusammenarbeiten, und die Gestaltung von einer der Hauptfiguren: Nachdem ein traumatisches Ereignis das Selbstvertrauen des jungen Politikers Demir zutiefst erschüttert hat, muss er Jahre später sein altes Leben anknüpfen und Verantwortung übernehmen, was er auch gut, aber eben mit einer neuen Verletzlichkeit macht.
„Herkunft“ ist nicht nur ein emotionales und für die Gegenwart sehr relevantes autobiografisches Buch über die Komplexität von Migrations- und Fluchterfahrung, Identität und Erinnerung, sondern macht trotz der ernsten Themen auch einfach Spaß. Stanišić bricht wieder und wieder auf der Mikro- und Makroebene mit Erwartungen und erzählt witzig und formal innovativ.
Ich habe über längere Zeit T.B. Skyens ausgezeichnete Mischung aus Spiel-Stream und Analyse zu „Bloodborne“ verfolgt und habe auf die abschließende Episode, „The Many Meanings of Bloodborne“, gewartet, weil ich es immer sehr spannend finde, was verschiedene Leute aus Kunst mitnehmen. Ich habe mich sehr gefreut, dass sie dieses Jahr herausgekommen ist.
“The Gamification of Public Discourse” ist ein spannender Vortrag des Philosophie-Professors C. Thi Nguyen. Nguyen verbindet darin seine Gedanken zu der Verführungskraft von Vereinfachungen, Echo Chambers, Filter Bubbles, Gamifizierung und „moral outrage porn“ zu einer ziemlich guten und sympathisch präsentierten Analyse, was bei öffentlichem Diskurs schiefgehen kann. Einiges fühlt sich aus anderen Auseinandersetzungen mit dem Thema vertraut an, aber Nguyen fügt einige neue, sehr anregende Überlegungen hinzu.
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Ich habe die letzten Tage genutzt, um die Ausgaben des Grimdark Magazine zu lesen, die ich heruntergeladen hatte, nur um sie zu vergessen – und ich bin froh darüber. Die Literaturzeitschrift liefert solide bis ausgezeichnete Kurzgeschichten, spannende Interviews und Rezensionen und auch das eine oder andere gute Essay. (Bei den Essays stört mich allerdings manchmal der defensive Ton – ich glaube nicht, dass sich Leser*innen und Autor*innen düsterer Phantastik vor Leuten rechtfertigen müssen, die eine Literaturzeitschrift namens „Grimdark Magazine“ abonnieren.)