High Fantasy spielt in Sekundärwelten, die eine andere Geschichte, andere Bedingungen haben als unsere – das ist das Kernmerkmal des Genres. Trotzdem stürzen sich Schreibende regelmäßig tief in Recherchen über vergangene Epochen. Und Lesende bringen mehr oder weniger gute Argumente, wieso ihre Immersion diese oder jene Abweichung von (ihrer Idee) der historischen Realität nicht überlebt hat.
Über letzteres habe ich bereits relativ ausführlich in meinem Artikel über „Historische Korrektheit“ (und wieso Verweise darauf in Bezug auf Fantasy oft faule und schnell auseinanderfallende Argumente sind) geschrieben. Aber ich wollte mich auch noch einmal damit beschäftigen, wie Geschichtswissen das eigene phantastische Schreiben trotzdem bereichern kann.
Die Vielfalt menschlicher Erfahrung
Die Lektüre vieler historischer Texte führt zu einer Erkenntnis: Die Welten, in denen unsere Vorfahren lebten, sind aus unserer Perspektive sehr, sehr merkwürdig. Nicht nur das Geschehen selbst, sondern auch die Art, wie Menschen es interpretierten, und ihre Idee von ihrer Rolle in der Welt. Die Beschäftigung mit Geschichte – und hier empfehle ich tatsächlich Originalquellen, ergänzt um erklärende Sekundärtexte – ist eine wunderbare Erinnerung an die Vielfalt menschlicher Erfahrung, aus der Ideen für Figurenmotivationen und Konflikte in fiktiven Welten erwachsen können.
Geschichte kann also, ohne dass allzu direkt Aspekte übernommen werden, ein gutes Gefühl dafür vermitteln, was eigentlich alles möglich ist – das bezieht sich auf große historische Entwicklungen ebenso wie auf unerwartete, fast schon skurrile Details wie den Fakt, dass Assassinen ein Motiv der Minnedichtung des 13. Jahrhunderts waren und dort Treue und Aufopferung für die Geliebte repräsentierten.
Auch war die „reale“ Geschichte sehr viel diverser und überraschender, als man auf der Basis von populärkulturellen Darstellungen annehmen würde: Auf dem Mittelmeer der frühen Neuzeit waren z.B. Piratencrews unterwegs, die sich aus muslimischen Korsaren und christlichen Renegaten zusammensetzten – und auch mal ein Bündnis mit protestantischen Ländern eingingen, um katholischen Nationen zu schaden.
Auch interessant zu verfolgen ist, wie sich Zuschreibungen von Geschlechtern mit der Zeit veränderten. Sich mit der historischen Entwicklung von Dingen auseinander zu setzen, hilft generell ganz gut, aus dem „das ist/war eben so und muss in jeder überzeugenden fiktiven Welt genauso sein“-Mindset rauszukommen, was sehr bereichernd für das Schreiben sein kann.
Andere Arten des Erzählens
Ebenso können historische Texte daran erinnern, dass wir Geschichten nicht immer so erzählt haben, wie wir sie heute erzählen, und dass es auch stilistisch immer neue Weiterentwicklungen gibt. In meinem Studium habe ich z.B. einen Text darüber gelesen, dass dem „Nibelungenlied“ eine ganz andere Idee von narrativer Kohärenz zu Grunde liegt, als wir sie heute haben. Und Sagas wie „Olafs Saga Tryggvasonar“ aus der „Heimskringla“ (12. Jh) geben einen Einblick in eine Welt, in der das „Natürliche“ und das, was wir heute als „magisch“ oder „übernatürlich“ bezeichnen würden, nicht starr getrennt sind – in dieser Historienerzählung verwandeln sich Magier in Wale und kämpfen vor den Küsten Islands mit Landgeistern.
Anregungen fürs Worldbuilding
Ebenso kann die Beschäftigung mit Geschichte eine wichtige Inspirationsquelle dafür sein, wie kulturelle und technologische, religiöse und politische Entwicklungen und geografische Gegebenheiten miteinander verflochten sind und sich gegenseitig befördern, blockieren oder erst ermöglichen. Zum Beispiel gibt es starke Argumente dafür, dass Einstellungen zu staatlicher Armenfürsorge heute noch von konfessionellen Traditionen geprägt sind, die wiederum interessante Wechselwirkungen mit wirtschaftlichen Strukturen hatten.
Historische Agency
Interessant ist auch die Frage: Wer „macht“ Geschichte? Leo Tolstois berühmter Roman „Krieg und Frieden“ wird immer wieder von Passagen unterbrochen, in denen die Erzählinstanz darüber philosophiert, wie selbst die Personen, die wir als „Geschichtsmacher*innen“ bezeichnen würden, von den Bedingungen ihrer Zeit und von den Erwartungen ihrer Zeitgenoss*innen vor sich hergetrieben werden – von der Spannung zwischen strukturellen Bedingungen und individueller historischer Agency.
Verschiedene Schulen der Geschichtswissenschaft legen mal den Fokus auf die Handlungen von Individuen, von Klassen, von Gruppen, aber auch von geografischen und technischen Gegebenheiten. Auch das ist eine interessante Frage, die unterschwellig in phantastischer Literatur erkundet werden kann. Ein gutes Beispiel dafür ist Guy Gavriel Kays melancholischer, eng an die Geschichte der Song-Dynastie angelehnter Roman „River of Stars“, wo es immer wieder unterschwellig oder explizit um den Platz von Individuen in der Geschichte geht. Meine Rezension zu dem Buch findet ihr bei Literatopia.
Imitation und Inspiration
Wir alle kennen die fantastischen Gegenstücke historischer Kulturen, die quasi als „Abkürzung“ für den Weltenbau fungieren und Lesenden rasch eine Idee vermitteln, wie sie sich das Setting vorstellen können. Gerade, wenn dies gut recherchiert ist, kann das auch sehr gut funktionieren. Ein spannendes Beispiel dafür findet sich in „Gunpowder Gods“. Hier hat sich der Autor, Zamil Akhtar, stark vom osmanischen Reich, von Kreuzrittern und nomadischen Kulturen inspirieren lassen, um eine düstere Geschichte vor dem Hintergrund lebhaften kulturellen Austauschs zu erzählen.
Dieses sogenannte Coding kann eine Menge Zeit sparen und einen effizienten Weg darstellen, die Vielfalt einer Welt zu zeigen, aber es bringt auch einige Risiken mit sich, z.B. den, real existierende Personengruppen zu exotisieren oder Stereotypen zu stärken.
Aus der Beschäftigung mit Alltagsgeschichte können auch viele kleine Details entnommen werden, die eine fiktive Welt realistischer erscheinen lassen, zum Beispiel wie bestimmte handwerkliche Tätigkeiten funktionierten. Auch kann man sich bei der Geschichte bedienen, um nicht jedes Mal das Rad neu erfinden zu müssen - ich habe erst vor kurzem ein Sachbuch über verschiedene Ritterorden gelesen, weil ich überlege, mir die Organisationsstrukturen eines solchen Ordens für einen Roman "auszuleihen".