Gerade wird mir wieder ein Haufen Tweets in die Timeline gespült, die ich gefühlt alle schon mal gelesen habe. Anscheinend ist es eines der weniger bekannten Gesetze des Universums, dass sich alle paar Monate ein paar Leute sehr laut online aufregen, weil in einer phantastischen, an eine historische Epoche angelehnten Geschichte in irgendeinem Medium Menschen nicht-europäischer Herkunft oder mit Behinderungen oder LGBTQIA+_Protagonisten auftauchen, woraufhin sie daran erinnert werden, dass ...
1. das europäische Mittelalter, auf das sich das generische Fantasy-Mittelalter sehr, sehr entfernt stützt, nicht so homogen war, wie viele anzunehmen scheinen.
2. gerade Fantasy-Romane in Sekundärwelten/ Kulturen in der fernen Zukunft alle ihre eigene Geschichte haben, deren Verlauf nicht mit unserer übereinstimmen muss (und überhaupt: Unsere Geschichte fand nicht nur in Europa statt) – das sollte also keine Einschränkung sein.
3. niemandem etwas weggenommen wird, wenn bisher marginalisierte Gruppen Repräsentation erfahren.
Und weil mir das erlaubt, über Geschichte, Phantastik und die Idee zu schreiben, dass alle Leser*innen eine Chance haben sollten, sich in Literatur wiederzufinden, gebe ich jetzt auch noch meinen Senf dazu und schreibe einen Artikel, den ich dann alle Monate wieder verlinken kann (lohnt sich sicher leider), und in dem ich noch mal ausführlicher auf jeden der 3 Punkte eingehe. (Ich benutze jetzt mal das Mittelalter als Beispiel, weil ich mich in den letzten Semestern viel damit beschäftigt und das mehrfach online thematisiert gesehen habe, aber was die Differenz zwischen der Realität und den Klischees über eine Zeit betrifft, gibt es Übertragbarkeiten auf andere Epochen. Ein exzellenter Post zum Thema ist "Writing the Victorians" auf "Stürmische Seiten").
Was für ein Mittelalter?
Ich habe schon immer darüber gestaunt, wie wenig unsere Idee vom Mittelalter mit der tatsächlichen Epoche zu tun hat. Zur Erinnerung: Die Bestimmung, wann das Mittelalter aufhört und anfängt, ist diffus und ein wenig arbiträr, aber auf jeden Fall handelt es sich um einen bemerkenswert langen Zeitraum, in dem einiger historischer Wandel stattgefunden hat. Unser Bild vom Mittelalter speist sich jedoch fast nur aus dem (vergleichsweise gut dokumentierten) Hoch- und Spätmittelalter. Ich erwähne jetzt einfach mal ein paar Mittelalter-Mythen, von denen ich im Laufe meines Studiums gelernt habe, dass sie nicht wahr sind:
1.
Das schmutzige Mittelalter - Tatsächlich gab es im Mittelalter zeitweise eine ausgeprägte Badekultur in Städten. Das große Stinken fing an, als die Idee aufkam, dass Badehäuser an der Verbreitung der Pest beteiligt sein konnten.
2.
Das christliche Mittelalter – Skandinavien wurde erst im 10. und 11. Jahrhundert christianisiert, und die baltischen Völker sogar noch später. (Bei den Kreuzzügen ging es nur ganz, ganz ursprünglich um die Eroberung Jerusalems – das ganze „Tötet die Ungläubigen, schnappt euch ihr Land und steigt zum wichtigen Faktor in der lokalen Politik auf“ ließ sich auch gut aufs heutige Polen/Baltikum übertragen).
3.
Isoliertes mittelalterliches Europa – Während Europa noch nach der Völkerwanderung so vor sich hindämmerte, war in Nordafrika/ Vorderasien deutlich mehr los. Händler bereisten die Welt und so kam es z.B., dass im 9. Jh. in Mainz orientalische Gewürze gehandelt wurden und noch früher ein angelsächsischer König Münzen drucken ließ, die Dinaren nachempfunden waren.
4.
Dunkles Zeitalter – Ob das stimmt, kommt darauf an, wo man hinschaut. Westeuropa war kulturell und wissenschaftlich ziemlich rückständig, bis Urbanisierung und Bildung ca.1200 einen großen Sprung machten. In Asien oder in der islamischen Welt, in der das Wissen der hellenistischen Kulturen und Persiens aufgingen und die z.B. Berührung mit China hatte, war dagegen eine Menge Wissen im Umlauf, wurde weiterentwickelt und angewendet. Der Fakt, dass durch die Kreuzzüge auch eine Menge Wissen aus der islamischen Welt nach Europa gelangte, ist einer der Gründe dafür, dass sich die Wissenschaftskultur in Europa sprunghaft weiterentwickelte.
5.
Hexenverbrennungen – Sie fanden auch im Mittelalter statt, sind aber eher ein Phänomen der Neuzeit.
6.
Mittelalter = europäisches Mittelalter – Vielleicht ist die Einteilung in Antike, Mittelalter und Neuzeit mit den gleichen Demarkationslinien, wie wir sie nutzen, nicht auf alle Regionen der Welt gleichermaßen anwendbar, aber der Rest der Welt hat keineswegs geschlafen, während in Europa ehrgeizige Könige und Kaiser, Ratten mit Pestflöhen und Gegenpäpste und Gegenpäpste zu Gegenpäpsten unterwegs waren.
Aber für diesen Artikel ist vor allem Punkt 3 relevant: Im Mittelalter reisten Wikinger nach Byzanz, bereisten islamische Händler und Gelehrte die Welt und pilgerten Menschen von England nach Jerusalem. Bereits im 8. Jahrhundert korrespondierte Karl der Große mit Kalif Harun-ar-Raschid. Waren und Menschen überwanden unglaubliche Distanzen. Googelt mal „Ibn Battuta“.
Also, selbst wenn der Anspruch historische Korrektheit ist, schließt das keineswegs aus, das PoC auftreten können. Und dass Menschen mit Behinderungen, Schwule, Lesben, Asexuelle, etc. damals schon existiert haben, steht außer Frage.
(Falls jemand zu meinen Mittelalter-Fakten Fragen hat, schreibt mich einfach an, ich suche dann gerne die Quellen heraus.)
Sekundärwelten und historisch gewachsene Kulturen
So gut wie jeder Fantasy-Fan hasst es, wenn jemand ihm/ihr erklärt, Fantasy müsse nicht logisch/realistisch sein. Phantastische Literatur stellt ihre eigenen Regeln auf, aber alles, aus auf deren Basis passiert, wird vom Publikum auf seine Plausibilität abgeklopft werden. Tatsächlich ist der Anspruch, was Konsistenz und Realismus betrifft, tendenziell sogar höher, weil Leser*innen der/m Autor*in bereits ein großes Stück entgegengekommen sind, indem sie die phantastische Grundlage der Welt akzeptieren. Aber genau das ist auch der einzige Anspruch an Realismus in der Phantastik: Die einzelnen Aspekte der Welt müssen zueinander passen.
Also muss eine Kultur, um überzeugend zu sein, einfach nur auf plausible Weise von ihrer Vergangenheit und den Gegebenheiten um sie herum geformt sein und wiederum die Leute, die unter ihrem Einfluss aufwachsen, prägen (deshalb störe ich mich in historischen/ phantastischen Romanen an Menschen, die, obwohl sie nie mit ihnen in Kontakt gekommen sind, moderne Werte in einer Welt vertreten, in der das sonst niemand tut, würde das aber auch umgekehrt irritierend finden).
Die Art, wie wir leben, ist keineswegs ein universeller Entwicklungsschritt, den jede Kultur mal durchläuft, sondern das Ergebnis einer merkwürdigen Evolution – und wenn diese (oder unser Bild von ihr) in einer fiktionalen Welt ein exaktes Ebenbild findet, ist das eigentlich erstaunlicher als eine ganz andere Entwicklung. Gesellschaften entwickeln sich und bilden sonderbare Regeln, Rituale und Werte aus – Kultur eben. Aber das passiert immer in Interaktion mit ihrer Umwelt. Und wenn da in einer phantastischen Welt eine Variable anders ist als in unserer – und selbst in unserer Welt gibt es eine Vielzahl von Kulturen, die sich unter ähnlichen Umständen sehr verschieden entwickelt haben –, dann kann das alle möglichen Folgen haben.
Natürlich ist mir bewusst, dass historische Parallelen eine Menge für ein Buch bewirken können: In der Weltgeschichte verbirgt sich eine Menge Inspiration, und zugleich sind Parallelen zu realen Ereignissen auch eine Quelle von Orientierung für Leser. Aber man muss sich nicht zwanghaft an sie klammern, und so kann eine fiktionale Kultur, die vllt. technologisch auf dem Level der Renaissance ist, weitaus offener und vielfältiger sein, als unsere Welt es damals war.
Repräsentation
Gibt es wirklich einen Mangel an Geschichten über weiße (heterosexuelle, neurotypische, ...) Menschen? Nicht, dass ich wüsste. Tatsächlich bin ich repräsentationsmäßig so verwöhnt, dass ich es als angenehme Abwechslung empfinde, wenn mal jemand mit einer anderen sexuellen Orientierung/ einer anderen Herkunft etc. die Hauptfigur eines Buches ist. Und ich kann mich trotzdem mit den Figuren identifizieren, weil es andere – wichtigere – Anknüpfungspunkte gibt.
Z.B. schreibt Nnedi Okorafor i.d.R. über afrikanische Frauen, die Erfahrungen machen, die sich nicht mehr von meinen unterscheiden können. Warum ich mich trotzdem mit Figuren wie Binti oder Phoenix identifizieren kann? Weil ich z.B. ihre Wissbegierde und ihr Staunen über die Welt um sie herum teile. Und Shen Tai aus Guy Gavriel Kays „Im Schatten des Himmels“ ist ein Mann und lebt in einem Land, das auf dem spätmittelalterlichen China basiert. Nichts davon trifft auf mich zu, und trotzdem fällt es mir leicht, mich in ihn hineinzuversetzen.
Die meisten Leser phantastischer Literatur haben die Welt schon einmal durch die Augen von Elfen und Zwergen, Aliens, Werwölfen etc. gesehen. Was ist jetzt also die Herausforderung daran, z.B. die Perspektive eines Protagonisten of Colour einzunehmen? Ok, der Blick auf die eigene Bevölkerungsgruppe aus den Augen von jemandem, der vielleicht nicht immer die besten Erfahrungen mit dieser gemacht hat, kann schmerzhaft sein, aber eben auch erhellend und notwendig.
Eine Zeit lang habe ich gedacht, dass die Identifikation mit Figuren mit anderem Hintergrund in beide Richtungen funktioniert, aber dann habe ich Artikel und Tweets von Leser*innen aus ethnischen Minderheiten gelesen, die beschrieben haben, dass ihnen die absolute Abwesenheit von Repräsentation in Kinder- und phantastischer Literatur das Gefühl gegeben hat, dass diese nicht für sie bestimmt war, oder dass sie zumindest keine Protagonisten sein könnten.
Ich habe mich auch daran erinnert, dass ich bei der Lektüre von „The Darkness that Comes Before“ dachte: „Interessantes Buch, aber ich hätte wirklich gerne ein paar Frauenfiguren dabei, die nicht bloß Opfer sind.“ Für mich ist so eine Erfahrung die Ausnahme und leicht hinzunehmen, weil ich jederzeit auf eines der unzähligen anderen Bücher zurückgreifen kann, in denen meine Bevölkerungsgruppe positiv repräsentiert ist. Andere Menschen haben dieses Glück nicht.
Also für mich sieht es ziemlich eindeutig so aus, als wäre mehr Repräsentation etwas, bei dem niemand etwas verliert, aber viele Menschen eine Menge gewinnen können.
Eine Art Fazit
Wer, wie viel, was, über wen, mit wessen Zustimmung/ nach welcher Recherche schreiben darf/kann/sollte/muss, ist etwas, worüber noch ausgiebig debattiert werden kann. Ich bin auch der Meinung, dass es nach wie vor völlig in Ordnung ist, europäisch inspirierte Phantastik zu schreiben (insbesondere angesichts dessen, wie wunderbar seltsam viele Aspekte historischer europäischer Kulturen waren). Aber der Hinweis auf historische Korrektheit ist in den meisten Fällen ziemlich sicher kein valides Argument, um Diversität in phantastischer Literatur abzulehnen.