Gelegentlich habe ich das Gefühl, dass sich die Urban Fantasy nur noch wiederholt. Und dann stoße ich auf ein Buch wie dieses und ändere meine Meinung.
Klappentext
Alif, ein junger Hacker in einem arabischen Emirat, sieht es als seine Berufung an, seinen Klienten Anonymität und Schutz vor staatlicher Überwachung zu bieten, ganz gleich welcher politischen Gruppierung sie angehören. Doch als er selbst ins Fadenkreiz der Regierung gerät und sein Rechner gehackt wird, muss Alif sein bisheriges Leben hinter sich lassen und untertauchen.
Dass ihm zudem ein uraltes Buch mit dem Titel „Tausendundein Tag“ in die Hände gespielt wird, verkompliziert die Sache enorm. Denn sein Inhalt enthüllt die reale Existenz der Dschinn und scheint der Schlüsel zu einer neuen Informationstechnologie zu sein ...
Handlung
Der junge Mann, den seine Kunden und Internetbekanntschaften nur als Alif kennen, lebt als Sohn der Zweitfrau eines bedeutenden Mannes ein Leben in bescheidenem Wohlstand – und hat gleich zwei Geheimnisse. Zum einen bietet er als „Gray Hat“ seine Dienste als Hacker jedem an, der sie benötigt. Zum anderen ist er heimlich mit der schönen, klugen Intisar zusammen, die gesellschaftlich gefährlich weit über ihm steht. Als ihre Familie sie verheiraten will, trennt sie sich von Alif. Verzweifelt und vor den Kopf gestoßen stürzt sich dieser in die Arbeit an einem ganz besonderen und potenziell sehr gefährlichen Computerprogramm. Doch diese findet ein jähes Ende, als er gehackt wird. Und zu allem Überfluss spielt ihm Intisar noch ein ganz besonderes Abschiedsgeschenk zu: Ein uraltes Buch mit dem Titel „Alf Yeom“, hinter dem so einige (nicht ausschließlich menschliche) Leute her sind.
Zusammen mit seiner Nachbarin Dina, die das Pech hatte, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, muss Alif sein vertrautes Leben hinter sich lassen, um den Fängen des Geheimdiensts zu entgehen. Seine Flucht führt ihn an zwielichtige Orte – und darüber hinaus, denn er lernt das geheimnisvolle Reich der Dschinn kennen, das mit der Welt der Menschen verflochten ist. Er findet an unerwarteter Stelle Beschützer, aber auch mächtige Feinde, und muss mehr als einmal um sein Leben fürchten.
Die nicht näher bezeichnete arabische Stadt, in der „Alif der Unsichtbare“ spielt, ist keineswegs nur eine exotische Kulisse, sondern wird von den Figuren mit den Augen von Menschen gesehen, die hier zu Hause sind. Alif und Dina, beide Kinder von Immigranten, kennen die mehr oder weniger subtilen sozialen Hierarchien, durchschauen, was bloß eine Inszenierung für Touristen ist und bewegen sich mit großer Vertrautheit durch ein für westliche Leser*innen tendenziell eher ungewöhnliches Setting, in dem Religion und Politik eine große Rolle spielen – nicht nur, weil Alif die im Koran beschriebenen Dschinn begegnen. Islamische Mythologie und Philosophie vermischen sich auf spannende Weise mit Linguistik und Informatik. Und die gesamte Handlung wäre ohne den Hintergrund strenger Zensur, brodelnder Wut in der größtenteils armen Bevölkerung und Willkürherrschaft nicht denkbar gewesen.
Ein Minuspunkt der Handlung: Was sie ganz am Anfang in Gang setzt, ist eine Reihe recht unkluger und unsympathischer Entscheidungen Alifs (zum Beispiel verschafft er sich ohne deren Wissen Zugriff auf Intisars Computer), aber die späteren Wendungen entschädigen dafür.
Figuren
Alif beginnt den Roman als ein intelligenter, aber unreifer und unbedachter junger Mann, dessen Gedanken zunächst nur um seine eigenen verletzten Gefühle kreisen und der teilweise nicht bedenkt, welche Konsequenzen seine Handlungen haben werden. Auf die Gefahr, mit der er sich plötzlich konfrontiert sieht, reagiert er zunächst mit sehr nachvollziehbarer Panik und Hilflosigkeit. Im Verlauf der Handlung durchläuft er jedoch eine große Entwicklung.
Seine Nachbarin Dina, die er, seit sie begonnen hat, sich zu verschleiern, primär als etwas langweilig und sonderbar und oft überhaupt nicht wahrgenommen hat, überrascht ihn mit ihrer Mischung aus Besonnenheit und Tatkraft und mit einem weitaus kritischeren Geist, als er ihr zunächst zugetraut hätte.
Eine weitere wichtige Figur ist der Dschinn Vikram. Mit seiner einschüchternden Präsenz, seiner Arroganz und seinen überraschenden Bemerkungen ist er eine der einprägsamsten Figuren des Romans und eine durchaus ambivalente Gestalt.
Alifs größter Gegenspieler erweist sich, als er ihn schließlich kennenlernt, als eine relativ einseitige Figur, der man herzlich ein baldiges Ende wünscht.
Stil
„Alif der Unsichtbare“ ist in der dritten Person und im Präteritum geschrieben. Einige wenige Formulierungen sind holprig, andere dagegen spannend und ungewöhnlich, meist fließt der Text aber unmerklich dahin. Es gelingt G. Willow Wilson gut, sowohl die reale Welt als auch die Dschinn-Welt mit ihrer ungewöhnlichen Magie, verwirrenden Atmosphäre und ihren manchmal beinahe lustigen Anachronismen (an einer Stelle hilft Alif einem Dschinn, dessen Laptop von Malware zu befreien) zum Leben zu erwecken. Ich bin jedoch darüber gestolpert, dass eine amerikanische Austauschstudentin, die Alif hilft, die ganze Zeit über nur als „die Konvertitin“ bezeichnet wird, obwohl sie zu einer relativ wichtigen Figur und immer wieder erwähnt wird (wobei das eine bewusste stilistische Entscheidung sein kann, da viele Figuren, unterstützt von der Erzählweise, ein Geheimnis um ihre Namen machen). Das Buch ist durchgängig spannend und steuert seine Figuren in verzweifelte Situationen, gönnt ihnen aber auch kraftvolle Momente des Triumphs oder der Erleichterung.
Fazit
G. Willow Wilson ist ein origineller Roman gelungen, in dem viele verschiedene Elemente sich zu einem spannenden, atmosphärischen Ganzen zusammenfügen und Leser*innen immer wieder überrascht werden.
Buchinfos
Verlag: Fischer Tor (Februar 2018)
Originaltitel: Alif the Unseen
Übersetzerin: Julia Schmeink