Blog Post

Schreiben: Tipps und Analysen - Magiesysteme

Swantje Niemann • 15. August 2019

Wie schafft man ein Magiesystem, das Leser*innen staunen lässt, aber nicht den Plot zerbricht? Ich habe mir einmal angeschaut, wie verschiedene Autor*innen das gemacht haben.

1. Harte Magiesysteme
Ein relativ neuer Trend in der Fantasy sind sogenannte harte Magiesysteme – Magiesysteme, deren Regeln klar und transparent definiert sind, sodass Leser*innen wissen, was die Figuren tun und nicht tun können. Das wahrscheinlich bekannteste Beispiel ist Brandon Sandersons „Kinder des Nebels“ – hier können Menschen mit der entsprechenden Begabung gelöste Metalle verdauen, um damit sehr spezifische Dinge, zum Beispiel Druck gegen nahegelegene metallische Objekte, zu erreichen. Das klingt zuerst unspektakulär, aber weil Figuren sich ihrer Kräfte auf kreative Weise bedienen, können sie nahezu die Schwerkraft austricksen und noch andere beeindruckende Dinge tun, die eher noch staunenswerter sind, weil man weiß, dass die Figuren ihre Erfolge ihrer Cleverness und den Schlupflöchern in den Gesetzen der Magie verdanken.
Ein anderes „hartes“ System ist Brent Weeks auf Farben basierende Magie, die wir in „Schwarzes Prisma“ kennenlernen. Hier wandeln Magier farbiges Licht in Materie um, und es ist relativ klar, was man (nicht) bewirken kann, wenn man in der Lage ist, eine bestimmte Farbe zu „wandeln“. (Weeks baut das System in den Nachfolgebänden mehr und mehr aus und es kommen „weiche“ Aspekte hinzu, aber zumindest am Anfang wirkt alles sehr klar und eindeutig). Magie hat hier nicht nur klare Limits, sondern auch einen präzise definierten Preis – wer sie häufig benutzt, muss mit einem frühen Tod rechnen.
Diese Systeme sind deshalb interessant, weil sie die Figuren zwingen, einfallsreich mit den begrenzten Mitteln umzugehen, die ihnen zur Verfügung stehen, und weil sie einige Probleme weicher Magiesysteme vermeiden. Dadurch, dass magische Fähigkeiten sehr spezifisch sind, gibt es Situationen, in denen sie nutzlos sind und Figuren andere Lösungen suchen müssen, und die Transparenz des Systems und der Fähigkeiten der Figuren vermittelt Leser*innen einen klaren Eindruck davon, wie große Sorgen sie sich um sie machen müssen.
Auch sind beide in den Beispielen erwähnte Magiesysteme deshalb interessant, weil sie auch Möglichkeiten zur Neutralisierung der Magie beinhalten. Selbst eine so mächtige „Nebelgeborene“ wie Vin ist ohne ihre Metalle geschwächt und ein/e „Wandler*in“ muss Licht in seiner/ihrer Farbe sehen können, um Magie nutzen zu können.
Was bei diesen Systemen also entfällt, ist die Gefahr eines magischen Deus ex Machina, aber ebenso gehen sie oft mit Abstrichen einher, was das Staunen der Leser*innen über eine mysteriöse Fantasywelt angeht. Ein erklärtes Geheimnis ist keines mehr und die Atmosphäre der Welt wirkt weniger phantastisch.

2. Weiche Magiesysteme
Weiche Magiesysteme haben den Vorteil, dass sie ein Gefühl des Numinosen wecken, die Aura von Staunen und Geheimnis in Fantasy bringen, die viele Leser*innen ursprünglich für das Genre begeistert hat.
Jedoch verbergen sich hier auch Gefahren. Schnell kann es beliebig wirken, was eine Figur kann oder nicht kann. Womöglich sieht es sogar aus, als sei die Magie den Erfordernissen des Plots untergeordnet, was wiederum der inneren Konsistenz und Glaubwürdigkeit der Welt schadet. Auch stellt sich, wenn Magie keine klar abgesteckten Grenzen hat, die Frage, wieso die Figuren sie nicht zur Lösung aller Probleme verwenden.
Allerdings lässt sich das auch vermeiden. Hier sind sechs Versionen weicher Magie, die meiner Meinung nach relativ leicht zu akzeptieren sind.

2.1 Es gibt (wahrscheinlich) Regeln, aber wir sehen sie nicht
Es wird nie explizit erklärt, was Magie kann und was nicht, aber gleichzeitig passt alles irgendwie zusammen und Leser*innen haben eine Idee, was sie erwarten können. Bernhard Hennen zeigt z.B., dass die Figuren in „Die Elfen“ und den Nachfolgebänden kleinere Zauber relativ mühelos (oder sogar unbewusst) meistern, aber an anderen Dingen hart arbeiten müssen. Zwar gibt es auch Figuren, für die diese Regeln nicht gelten, aber auch wenn Leser*innen nicht genau benennen können, wie die Magie funktioniert und wer was damit bewerkstelligen kann, haben sie doch ein gutes Gefühl dafür, wozu die Protagonisten (die tw. nur sehr spezifische Zauber beherrschen) in der Lage sind. Verstärkend kommt hinzu, dass es sich größtenteils um relativ traditionelle Magie handelt, die Fantasy-Leser*innen zu akzeptieren gewohnt sind.
Als am Ende Magie eine große Rolle spielt, um einen zentralen Konflikt zu lösen, erscheint das nicht wie Deus ex Machina, weil die Gegenstände und Zauber, die dabei involviert sind, bereits vorher eingeführt wurden.

2.2 Magie folgt narrativen Mustern/ greift auf Motive aus Märchen und Mythen zurück
Die meisten Leute, die Türstopper von Fantasyromanen lesen, sind auch mit einer Menge anderer Bücher vertraut und haben sich bewusst oder unbewusst deren Strukturen eingeprägt, gerade die von Märchen und Mythen. Wenn ein Buch einer solchen Struktur oder aber direkt auf einen bekannten Mythos Bezug nimmt, wie z.B. Rick Riordans Percy-Jackson-Romane, dann verleiht der Bezug auf den Mythos, der für die Dauer des Romans gewissermaßen zum historischen Text wird, den phantastischen Elementen Legitimität. Hier werden Kugelschreiber zu Schwertern und Lehrerinnen zu Monstern, und es fühlt sich stimmig an, weil das Schwert und das Monster mehr oder weniger bereits existieren.
Wenn die Hauptfigur zweimal versagt, aber es beim dritten Mal schafft, oder aber die Kraft der Liebe/ die Lösung eines Rätsels/ etc. magische Fähigkeiten freilegt, dann kann das deshalb akzeptiert werden, weil es Leser*innen aus zahlreichen Märchen vertraut ist. Dabei kommt es jedoch aufs Genre an. In einer expliziten Märchenadaption oder einem Fantasyroman, der eher märchenhaft-träumerisch daherkommt, wird dies wahrscheinlich leichter akzeptiert werden, während Leser*innen, denen sich ein Buch auf den ersten Seiten als Grimdark-Roman zu erkennen gegeben hat, vermutlich eher damit rechnen werden, dass naiver Glaube an die Kraft der Liebe ihre Hauptfigur geradewegs ins Verderben führt.

2.3 Magie als Metapher
Nicht alle, aber viele Leser*innen sind auch gewillt, Magie oder das Übernatürliche sogar mit kleinen Inkonsistenzen zu akzeptieren, wenn es eigentlich nicht primär um die Magie geht, sondern sie etwas anderes repräsentiert. Das Universum der Serie „Buffy“ weist eine Reihe von Ungereimtheiten auf, aber da die diversen Monster und Probleme in erster Linie Probleme des Erwachsenwerdens symbolisieren, ist es leichter, sie hinzunehmen.
Auch in den meisten Büchern Gesa Schwartz' dient Magie in erster Linie dazu, entweder widerzuspiegeln oder durch das Heraufbeschwören sonderbar spezifischer Prüfungen und Konflikte Situationen zu schaffen, die enthüllen, was in den Protagonist*innen vor sich geht. Bei ihr kommt noch eine sehr lyrische, metaphernreiche Sprache hinzu, die die Grenze zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit, poetischer Umschreibung und beobachtbarem Geschehen verwischen lässt. Das erleichtert es, über die sehr diffusen Regeln der Magie in ihrer Welt hinwegzusehen.

2.4 Magie dient eher der Atmosphäre
Und dann gibt es noch die Geschichten, in denen Magie unerklärt existiert. Sie hat die wichtige Rolle, zur Atmosphäre der Welt beizutragen und hier und da den Plot zu beeinflussen, aber da i.d.R. keine zentrale Figur sie beherrscht oder versteht, steht sie nicht im Mittelpunkt.
So verhält es sich z.B. mit Geistern oder der Zauberei eines Nomadenvolks in Guy Gavriel Kays „Der Schatten des Himmels“: Magie ist real, aber es geht primär um die Intrigen von Menschen, die nicht einmal an sie glauben, und so ist sie über weite Strecken nur eine weitere Lage von Rätsel und Geheimnis.
Tatsächlich ist es ohnehin ein guter Worldbuilding-Ratschlag, dass die Figuren nicht alles über ihre Welt wissen und die Grenzen zwischen Fakt und Aberglaube fließend sein könnten. Z.B. glaubten in unserer Welt Menschen im Mittelalter den Schilderungen John de Mandevilles, der, ohne je dort gewesen zu sein, davon erzählte, dass einige Bewohner Äthiopiens einen einzigen großen Fuß hätten. Es macht eine Welt eher überzeugender, wenn Figuren nicht noch ihren letzten Winkel erkundet und nicht all ihre Regeln verstanden haben und widersprüchliche Geschichten und Überlieferungen kursieren.

2.5 Göttermagie
In dieser Version gibt es sehr eindeutig Magie und diejenigen, die sie ausüben, scheren sich nicht um Regeln – allerdings handelt es sich bei ihnen nicht um die Protagonist*innen, sondern um (manchmal unberechenbare) Götter. Robert Jackson Bennett hat mit seiner „Die göttlichen Städte“-Trilogie eine sehr einprägsame Version eines solchen Modells geschaffen: Die Götter in seiner Welt sind ebenso vom Glauben der Menschen beeinflusst, wie sie deren Leben formen, und die Realität selbst ist Wachs in ihren Händen – was angesichts der labilen Natur der Götter ziemlich beängstigend ist. Hinzu kommt noch die einzigartige und leicht verstörende Ästhetik, die er den Spuren ihres Wirkens verleiht.
Diese Variante erlaubt es, mächtige, unerklärliche Magie im Spiel zu haben, aber die Figuren dennoch mit den Limits normaler Menschen agieren zu lassen. Schwierig wird es, wenn die Götter Interesse am großen Konflikt der Handlung haben – warum greifen sie dann nicht direkt ein?
Ken Liu hat das z.B. in „Seidenkrieger“ damit gelöst, dass die Götter auf verschiedenen Seiten stehen und sich an Regeln für den Umgang mit Sterblichen und das erlaubte Ausmaß ihrer Einflussnahme gegeben haben – und sie sind auch nicht so leidenschaftlich bei der Sache, sondern scheinen die Sterblichen eher unterhaltsam zu finden.

2.6 Responsive Realities
Wenn die Welten so funktionieren, dass sich der Glaube oder die Gefühle von Menschen in Veränderungen ihrer physischen Umwelt übersetzen, handelt es sich um Responsive Realities. Ein sehr düsteres Beispiel ist Michael R. Fletchers „Beyond Redemption“ – hier formt sich die Realität nach dem Glauben der Menschen um, und wer am meisten von seinen Ideen überzeugt ist, hat die größte Macht. Dies führt dazu, dass gerade Wahnvorstellungen oft Realität werden. So verwest eine Figur, die am Cotard-Syndrom leidet (und daher glaubt, eine wandelnde Leiche zu sein) tatsächlich.
Eine „Responsive Reality“ ist eine gute Grundlage, um extrem vielgestaltige Magie und teilweise auch die Existenz von Göttern oder höheren Wesen zu erklären – Menschen haben sie „in die Welt geglaubt“.

Fazit
Harte und weiche Magiesysteme haben beide ihre Vorteile und werden beide akzeptiert, solange Magie nicht einfach eine bequeme Lösung für Plotprobleme wird und den Rest der Handlung überflüssig macht, oder aber die Frage aufwirft, wieso Figuren nicht ständig darauf zurückgreifen. Eine weitere Herausforderung ist es, ein Kräftegleichgewicht zu gewährleisten: Keine Figur sollte so mächtig werden, dass niemand mehr einen wirklich bedrohlichen Gegner für sie darstellt. Man kann das durch sehr spezifische Fähigkeiten, einen hohen Preis oder den Fakt, dass sich Magie nur schwer kontrollieren lässt, ausgleichen, sodass Figuren entweder teilweise nicht in der Lage sind, etwas mit ihren Kräften auszurichten, oder aber zögern, sie einzusetzen. (So habe ich das z.B. mit Drúdir gelöst – seine Fähigkeiten sind mächtig, aber sehr spezifisch, und es ist ihm nahezu unmöglich, sie in einem Kampf einzusetzen, ohne dass sein*e Gegner*in dabei dauerhaften Schaden nimmt).
Wovon ich persönlich abraten würde, sind wissenschaftliche Erklärungen für Magie, die bei genauerem Hinsehen auseinanderfallen. Dann lieber doch einfach ein Magiesystem herbeiwinken, aber dann auf dieser Grundlage konsistent bleiben.
Ein weiterer wichtiger Aspekt: Wie ist die Magie in die Welt integriert? Wenn z.B. ausreichend Menschen die Fähigkeit der Teleportation haben und Dinge mitnehmen können, wird das die Art beeinflussen, wie Handel und Kommunikation funktionieren. Wenn genug Menschen magische Kräfte haben, wird das den Verlauf der Geschichte, gesellschaftliche Hierarchien, technische Entwicklungen usw. auf vielfältige Weise beeinflussen. Aber das ist ein Thema für einen eigenen Artikel, den ich vielleicht irgendwann schreiben werde.

Die drei ersten Bände der
von Swantje Niemann 29. Juli 2024
Willkommen zu einem Artikel, der eine Lupe über circa fünf Buchseiten hält.
Vier Bücher mit dem Schnitt nach vorne, sodass man die Post-Its zwischen den Seiten sehen kann
von Swantje Niemann 24. Juli 2024
Ich habe in den letzten Monaten nicht nur eine Menge interessanter Romane gelesen, sondern auch spannende, informative Sachbücher für mich entdeckt. Hier ist eine Auswahl: Outlaw Ocean von Ian Urbina ist aus einer Sammlung von investigativen Recherchen hervorgegangen, die sich alle um das Meer drehen. Ian Urbina erforscht, wie verschiedenste Personen und Unternehmen für sich ausnutzen, dass sie sich auf internationalen Gewässern leicht rechtlichen Einschränkungen und Kontrollen entziehen können. Er verfolgt unter anderem mit Umweltschützer:innen illegale Fischereischiffe, forscht moderner Sklaverei auf den Meeren nach und erzählt die Geschichten blinder Passagiere. Outlaw Ocean ist ein fesselndes Buch, das ein Schlaglicht auf die Ausbeutung von Menschen und Natur auf den Meeren wirft und auch spannende Einblicke in die Arbeitsweise und Erfahrungen des Autors als investigativer Journalist gibt. Das Klimabuch , herausgegeben von Greta Thunberg, ist eine Sammlung von Artikeln, die den Klimawandel, dessen Hintergründe und mögliche Gegenmaßnahmen aus vielen verschiedenen Perspektiven erklären. Darunter sind zugängliche Erklärungen der physikalischen, ökologischen und meteorologischen Verflechtungen, vor deren Hintergrund erst klar wird, was für ein großes Problem der Klimawandel ist. Die Texte sind gut ausgesucht und werden von Fotos und hilfreichen Grafiken begleitet. Viele von ihnen stammen von Menschen, für die die Klimakrise nicht länger eine nebulöse Bedrohung in der Zukunft, sondern längst angekommen ist. Auch in Fen, Bog and Swamp von Annie Proulx geht es unter anderem um das Klima – genauer gesagt, um die Rolle, die Moore, Sümpfe und Fenns für dieses und für Artenvielfalt spielen. Das Buch ist eine ebenso poetische wie für die relevante Geschichte von Feuchtgebieten und deren Rezeption und Zerstörung durch Menschen. In Klassenbeste analysiert Marlen Hobrack anhand der Geschichte ihrer Familie – vor allem der ihrer Mutter, aber auch ihrer Großmutter und ihrer eigenen –, was es für sie bedeutet hat und bedeutet, Frau, Arbeiterin, Ostdeutsche und Mütter zu sein. Sie nimmt dabei mit Frauen aus der Arbeiterklasse eine Kategorie in den Fokus, die jeweils in Diskursen über Geschlecht und über Klasse häufig ausgeblendet wird. Das Buch bietet auf kleinem Raum viele Infos und auch konkrete Handlungsaufforderungen. Mythos Bildung von Aladin El-Mafaalani bietet ebenfalls eine hohe Dichte von Informationen und ist dabei sehr zugänglich geschrieben. Es handelt sich um eine soziologische Analyse der Bildungslandschaft in Deutschland, in welcher der Begriff des Habitus eine Schlüsselrolle spielt. El-Mafaalani analysiert, ob und zu welchen Bedingungen ein gesellschaftlicher Aufstieg möglich ist und zeigt auf, dass es eine starke Bildungsexpansion gegeben hat, dass also alle gebildeter werden, aber dass sich dabei auch Ungleichheiten vergrößert haben. Die Lösungsvorschläge, die er für Ungleichheiten im Bildungssystem macht, haben meiner Meinung nach eine gute Balance aus Ehrgeiz und Pragmatismus.
Die Bücher
von Swantje Niemann 9. Juli 2024
Ich habe in der ersten Jahreshälfte wieder einige Buchentdeckungen gemacht. Hier ist ein Zwischenbericht: Fantasy Blood over Bright Haven von M.L. Wang erzählt mit großer emotionaler Intensität die Geschichte der brillanten, ehrgeizigen Magierin Sciona, die sich in einer feindseligen Universität durchsetzen muss – und über eine Wahrheit stolpert, welche ihr gesamtes Weltbild ins Wanken bringt. Das Buch ist nicht subtil in seinen Aussagen zu Rassismus und Sexismus, aber sie sind interessant und komplex genug (z.B. was das Ineinandergreifen von Rassismus, Sexismus, Klassismus und die sehr engen Grenzen des Feminismus der Hauptfigur betrifft), dass das nicht negativ ins Gewicht fällt.  Robert Jackson Bennetts The Tainted Cup verbindet gleich mehrere Genres: High Fantasy mit originellem Worldbuilding trifft hier auf einen klassischen Krimi-Plot mit einem exzentrischen Ermittler*innen-Duo, während im Hintergrund eine Katastrophe abgewendet werden muss. Das Resultat ist originell und sehr zufriedenstellend. Mit The Book that Wouldn’t Burn beginnt Mark Lawrence eine neue Trilogie, die gut genug geschrieben ist, um mich darüber hinwegsehen zu lassen, dass einige Elemente des Plots (z.B. Zeitreisen) eigentlich gar nicht mein Ding sind. Das Setting ist eine gigantische Bibliothek, die Fokus eines uralten Streits um das zweischneidige Schwert des Wissens ist. Was mich überrascht hat: die überraschend süße Liebesgeschichte, die eine große Rolle für den Roman und seinen Folgeband spielt. Urban Fantasy Naomi Noviks Scholomance -Trilogie ist eine kurze YA-Reihe, die auch erwachsene Leser*innen überzeugen kann. Sie wartet mit einer originellen Variante einer Zauberschule und einer Protagonistin auf, die äußerst schlecht gelaunt das Richtige tut und deren Erzählstil die düsteren Aspekte des Settings auf Distanz hält. Das besondere an der Reihe ist, dass sie ihre Figuren nicht wirklich gegen Antagonist*innen, sondern gegen ein systemisches Problem arbeiten – und dass es, was bei solchen Ausgangssituationen nicht sehr häufig ist, trotzdem eine optimistische Geschichte ist. In Ink Blood Sister Scribe von Emma Törsz geht es um zwei Halbschwestern, deren Leben auf sehr verschiedene von der Sammlung magischer Bücher bestimmt wird, die ihre Familie hütet. Das Buch beginnt, als sie sich nicht länger vor ihren Gegenspieler*innen verbergen können. Das Figurenensemble ist klein und statt einer ausgreifenden verborgenen Welt gibt es hier nur einige wenige übernatürliche Elemente. Figuren und Magie sind aber sorgfältig ausgearbeitet und greifen gut ineinander. Ink Blood Sister Scribe nimmt sich viel Zeit für atmosphärische, präzise Beschreibungen. Es ist auch mal wieder original deutschsprachige Fantasy dabei: Noah Stoffers reiht sich mit A Midsummer’s Nightmare in die Reihe der Autor*innen ein, die den Dark-Academia-Trend aufgreifen. Protagonist*in Ari muss die übernatürlichen Geheimnisse einer elitären, altehrwürdigen Universität erkunden, bevor diese Ari und Aris Freund*innen gefährlich werden. Stoffers setzt aus anderen Büchern des Subgenres wie zum Beispiel „Das neunte Haus“ bekannte Elemente gekonnt um (z.B. auch das Topos marginalisierter Figuren, die Außenseiter*innen in einer Hochburg alter Privilegien sind). Sier ergänzt eine großzügige Prise originelles Worldbuilding und stellt eine nicht-binäre Figur ins Zentrum, was insbesondere in der deutschsprachigen Phantastik bisher ziemlich selten ist. Das fügt sich alles zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Science Fiction Mit Arboreality hat Rebecca Campbell einen berührenden Roman aus ineinandergreifenden Geschichten geschrieben, in denen Menschen und Bäume die Klimakrise überdauern. Sie schildert eine nahe Zukunft voller Melancholie und Hoffnung. Weitaus bissiger geht es in Venomous Lumpsucker von Ned Beauman zu. Der Near-Future-Roman denkt Trends der Gegenwart weiter und fügt sie zu einem temporeichen Thriller rund um Umweltzerstörung und den Verlust von Artenvielfalt zusammen, mit einer Menge gezielter Seitenhiebe und dunkler Situationskomik. Exordia von Seth Dickinson ist ein abgedrehter First-Contact-Roman, der wild Genres mixt und seine Figuren immer wieder vor moralische Dilemmata stellt – inklusive der Entscheidung über das Schicksal der Erde. Humor, Schrecken und emotional berührende Momente liegen hier dicht beieinander. Das Buch greift auch die Geschichte der Kurden und amerikanischer Interventionen im Nahen Osten auf. Ich bin endlich dazu gekommen, Machineries of Empire von Yoon Ha Lee zu beenden. Dabei handelt es sich umi eine Science-Fantasy-Trilogie rund um ein interstellares Imperium, in dem Mathematik und Rituale die Realität verändern können und die Funktion von Technologie vom Einhalten des imperialen Kalenders abhängt. Wer sich auf die steile Lernkurve des Buches einlässt, wird mit einer mitreißenden Geschichte, einer farbenprächtigen Welt, relevanten Themen und charismatischen Figuren belohnt (insbesondere Shuos Jedao, der untote General, der eine Schlüsselrolle für die Bücher spielt).
Vier der im Beitrag beschriebenen Bücher in einem weißen Regal
von Swantje Niemann 28. Dezember 2023
Ich habe dieses Jahr wieder einige Bücher entdeckt, die ich nur zu gerne weiterempfehle.
Bild einer etwas krakeligen Mindmap
von Swantje Niemann 20. November 2023
Gleich noch ein spannendes Team-Projekt!
Cover des Romans
von Swantje Niemann 4. November 2023
"Königsgift" und seine ungewöhnliche Entstehungsgeschichte
Die Bücher
von Swantje Niemann 22. April 2023
Die Liste der Bücher, die sich mir 2022 eingeprägt haben, ist mal wieder sehr lang geworden. Hier sind ein paar davon: Fantasy 2022 habe ich die „Green Bone“-Saga beendet und zusätzlich die Novelle „The Jade Setter of Janloon“ gehört. Fonda Lee führt die Geschichte um den No-Peak-Clan zu einem sehr befriedigenden Ende und weitet immer weiter aus, wie viel von ihrer sehr modern und realistisch anmutenden Sekundärwelt ihre Geschichte abdeckt. Sie schreibt charismatische, moralisch ambige Figuren, die sich beim Lesen ins Gedächtnis schreiben und deren Überzeugungen und Charakterzüge überzeugende Wechselwirkungen mit ihrer Gesellschaft haben. Ich habe im letzten Jahr auch den bisher neuesten Band der „Masquerade“-Reihe von Seth Dickinson gelesen. „The Tyrant Baru Cormorant“ ve rvollständigt das relativ unbefriedigende „The Monster Baru Cormorant“ zu einem schließlich doch sehr überzeugenden Ganzen. Es geht um Krebsmagie, um Imperialismus, Kolonialismus und Widerstand, und um eine faszinierende, zerrissene Hauptfigur, die viel(e) opfert, um ein Imperium zu Fall zu bringen. Der Weltenbau ist originell und komplex, die Auseinandersetzung mit Imperialismus und Kolonialismus tiefer, als ich es von dem Genre gewohnt bin. Ähnlich explizit anti-imperial geht es in „Babel“ von R.F. Kuang zu (tatsächlich hätte die Autorin dem Publikum hier und da ein bisschen mehr darin vertrauen können, dass es angesichts der geschilderten Ereignisse schon zu den gleichen Schlüssen kommt wie sie). In einem alternativen magischen Oxford des 19. Jahrhunderts findet der junge Übersetzer Robin intellektuelle Herausforderungen, Luxus und Freundschaft – vorausgesetzt, er spielt weiter brav seine Rolle als Handlanger eines Imperiums, das auf ihn angewiesen ist, aber ihm echte Zugehörigkeit verweigert. Schließlich erreicht Robin einen Punkt, an dem er eine Entscheidung treffen muss. Ein wütendes, mitreißendes Buch voller Wissen zu Geschichte und Linguistik (bei dem ich bei allen seinen Stärken allerdings kritisieren würde, dass bestimmte Figuren sich eher wie Werkzeuge, um bestimmte Punkte zu illustrieren, als wie dreidimensionale Persönlichkeiten anfühlen – Robins Charakterisierung ist jedoch gut gelungen). Außerdem konnte ich eines meiner großen Leseprojekte beenden: Ich habe nun alle zehn Bände des „Malazan Book of the Fallen“ gelesen. Es handelt sich um eine Buchreihe, die eine unglaubliche Bandbreite an Figuren, Schauplätzen, Plots, Registern und Themen abdeckt. Wie in einer so vielfältigen Reihe manchmal nicht anders zu erwarten, konnte ich mit einigen Abschnitten mehr anfangen als mit anderen. Aber die emotionalen Momente sind kraftvoll, die heraufbeschworenen Bilder episch und die Themen der Bücher sehr relevant. Malazan lesen fühlt sich manchmal ein bisschen wie Arbeit an, aber wie Arbeit, die es absolut wert ist. Manchmal scheuen Autor*innen davor zurück, Figuren mit marginalisierten Identitäten moralisch graue oder auch nur unsympathische Züge zu geben. In „Sanguen Daemonis“ ist das nicht der Fall. Anna Zabinis sehr diverses Figurenensemble steckt voller innerer und äußerer Konflikte, und hinzu kommt ein Setting voller Paranoia und Düsternis. Der dystopische Urban-Fantasy-Roman ist antichronologisch erzählt und ist insgesamt angenehm ehrgeizig. „Das Rot der Nacht“ von Kathrin Ils ist ein solider, in sich geschlossener Roman mit einem atmosphärischen, mittelalterlich inspirierten Setting. In der klaustrophobischen Atmosphäre eines von Misstrauen erfüllten Dorfes muss die Protagonistin, Belanca, mit einer sehr gefährlichen Situation umgehen. Im Zuge dessen stellt sie fest, dass mehr in ihr steckt, als erwartet. Science-Fiction Ich bin durch einen Artikel namens „The Edgy Writing of Blindsight“ auf Peter Watts Roman gestoßen und auch wenn ich nachvollziehen kann, wieso die Verfasserin nichts mit dem Buch anfangen konnte, war meine Neugier durch die Zitate geweckt – und ich bin froh darüber, das Buch gelesen zu haben. „Blindsight“ ist ehrgeizig, vollgestopft mit Ideen und eine ebenso düstere wie hypnotische Kombination aus Science Fiction und Cosmic Horror. Das Buch wartet mit einem kühnen Gedankenexperiment zu Intelligenz und Bewusstsein und mit einer starken zentralen These auf, der man nicht zustimmen muss, um etwas von dem Buch zu haben. Ich verstehe das Worldbuilding von „Ninefox Gambit“ zugegebenermaßen immer noch nicht komplett, aber diese Welt mit einem Imperium, dass einen speziellen Kalender befolgt und verteidigt und Macht aus diesem zieht, ist ebenso überwältigend, wie sie spannend ist. Darüber hinaus ist das Buch spannend, gut geschrieben und wartet mit einer außergewöhnlichen Figurenkonstellation (die Hauptfigur trägt den Geist eines vermeintlich wahnsinnigen Generals mit sich) und einigen überraschenden Wendungen auf. „The Light Brigade“ ist gritty, gesellschaftskritisch und hat mir gefallen, obwohl ich überhaupt kein Fan von Zeitreisegeschichten bin. In einer dystopischen Zukunft kämpfen hier Soldat*innen, die sich in Licht auflösen, um sich dann wieder an ihren Einsatzorten zu manifestieren, gegen einen mysteriösen Feind. Aber schnell bekommt die Protagonistin das Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Kameron Hurley hat ein spannendes, wütendes Buch voller einprägsamer Zitate geschrieben. „Dem Blitz zu nah“ ist vielleicht eher interessant, als dass das Buch Spaß macht – aber dafür ist es wirklich sehr interessant. Ada Palmer entwirft eine Zukunft, in der nicht nur Technologien, sondern auch zum Beispiel der Umgang mit Geschlecht, mit „nationaler“ Zugehörigkeit und vielem mehr radikal geändert haben. Ein Protagonist mit einer sehr dunklen Vergangenheit erzählt unter zahlreichen Bezügen auf die Zeit der Aufklärung von der Verschwörung, die sich unter dem scheinbar utopischen Frieden der „Hives“ verbirgt. Wirklich utopisch geht es in „Pantopia“ zu – allerdings ist der Weg zu der Welt, in der die Menschenrechte das oberste Gebot und ethische Entscheidungen deutlich leichter sind als in der Gegenwart, holprig und voller Ungewissheiten. Und genau über diesen erzählt Theresa Hannig gekonnt. Sie erzählt von überzeugend gezeichneten Figuren, von moralischen Kompromissen und zweiten Chancen, und nicht zuletzt radikal hoffnungsvoll. „How High We Go in the Dark” habe ich quasi zusammen mit einem Buchclub gelesen – allerdings sind einige der Lesenden zwischendrin ausgestiegen und auch ich hatte Schwierigkeiten, das Buch zu beenden. Das liegt aber keineswegs daran, dass Sequoia Nagemutsus ineinander verflochtene Geschichten schlecht wären, sondern vielmehr daran, wie bedrückend nah sich der Roman anfühlt. Es geht um eine Pandemie, Klimawandel und das oft vergebliche Bemühen, geliebte Menschen zu beschützen. In diesem Roman bricht der oft verdrängte Tod mit solcher Macht wieder in unsere Gesellschaft ein, dass den Figuren nichts anderes als eine kollektive Auseinandersetzung damit – und damit, was sie verbindet – übrigbleibt. Sachbuch „Faultiere - Ein Portrait“ von Tobias Keiling, Heidi Liedke und Judith Schalansky (Hg). konnte mich mit seinem originellen Konzept und einer Menge neuem Wissen beeindrucken. Das Buch stellt quasi eine kurze Rezeptionsgeschichte des Faultiers dar, eine Geschichte der Projektionen auf dieses ungewöhnliche Tier, die wiederum viel über die Betrachtenden verraten. In „Entstellt“ von Amanda Leduc verbindet die Autorin autobiografisches Schreiben mit einer Analyse der Darstellung von Menschen mit Behinderungen oder Entstellungen in Märchen und moderner Popkultur.
Print-Ausgaben von
von Swantje Niemann 13. April 2023
Zwei sehr verschiedene Bücher erzählen beide in der ersten Person. Ich schaue mir mal genauer an, was ihren Ansatz dabei unterscheidet und wieso das in beiden Fällen sehr gut funktioniert.
Titelseite einer Ausgabe von
26. November 2022
Zusammenfassung, Rezension und ein bisschen Literaturepochen-Kontext
Rostige Krone liegt auf Moos
von Swantje Niemann 12. September 2022
Ein paar Überlegungen zu einem Lieblingstrope des Fantasygenres.
Weitere Beiträge
Share by: