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Rezension: Cory Doctorow - Little Brother

Swantje Niemann • 20. März 2018

Ein YA-Roman, der ziemlich gute Schullektüre abgäbe.


Klappentext

Marcus, alias «w1n5t0n», ist 17, smart und ein begeisterter Gamer. Als Terroristen die Oakland Bay Bridge in San Francisco in die Luft sprengen, befinden er und seine Freunde sich zur falschen Zeit am falschen Ort. Agenten der Sicherheitsbehörde halten sie für verdächtig und verschleppen sie auf eine geheime Insel, wo sie tagelang verhört, schikaniert und gedemütigt werden. Als Marcus freikommt, hat sich San Francisco in einen Überwachungsstaat verwandelt. Jeder Bürger – ein potentieller Terrorist; Menschenrechte – zweitrangig; Freiheit – ein «Sicherheitsrisiko». Marcus und seine Freunde können nicht akzeptieren, was geschehen ist – und beschließen, sich zu wehren. Mit Hilfe subversiver neuer Medien organisieren sie sich zu einer «Gamer-Guerilla». Ihr Plan: Sabotage der staatlichen Überwachung. Ihre Waffen: die Zukunftstechnologien. Ihr Ziel: der Sturz der Regierung.


Handlung

Nachdem ein Terroranschlag San Francisco erschüttert hat, werden Marcus und seine Freunde unschuldig verdächtigt – und erhaschen einen Blick auf ein Amerika, in dem ihre Rechte nichts wert sind und Menschen spurlos in geheimen Gefängnissen verschwinden können. Nach traumatischen Tagen wird Markus freigelassen, doch von den drei Freunden, die mit ihm verhaftet wurden, nehmen nur zwei mit ihm Kontakt auf. Darryl, der zum Zeitpunkt seiner Verhaftung schwer verletzt war, ist spurlos verschwunden.

Nach und nach muss Marcus feststellen, dass er in ein anderes San Francisco zurückgekehrt ist. Bereits vorher war Überwachung allgegenwärtig, aber nun erreicht sie einen neuen Höhepunkt. Marcus hat Angst um sich und seine Freunde, aber er ist trotzdem wild entschlossen, Widerstand zu leisten. Er richtet ein Kommunikationsnetz ein, dass es ihm und anderen Jugendlichen erlaubt, unüberwacht zu kommunizieren und sich zu Akten zivilen Ungehorsams zu verabreden.

Marcus fängt an, sich mit der Geschichte von Widerstandsbewegungen, mit Freiheitsrechten und Überwachungstechnologien auseinanderzusetzen und tritt entschlossen für Freiheit, Privatsphäre und sein Recht auf friedlichen Widerstand ein. Für viele seiner größtenteils jugendlichen Unterstützer wird er dadurch zum Helden, aber er erlebt auch fassungslos, wie viele Menschen die neue Kontrolle durch die Regierung gutheißen und jeden zum Helfer von Terroristen erklären, der sich dagegen einsetzt.

Die ganze Zeit über schwebt die Gefahr der Entdeckung über ihm – und die Menschen, die ihn entführt haben, haben deutlich gemacht, dass ihn in diesem Fall kein faires Verfahren erwartet. Marcus erlebt Momente des Triumphs und kommt der klugen, engagierten Ange näher. Aber er hat keine Kontrolle über den von ihm losgetretenen Widerstand und ahnt nicht, wie weit seine Gegenspieler bei den Behörden zu gehen bereit sind. Tatsächlich wirken einige der Reaktionen auf kleine, friedliche Protestaktionen ein wenig überzogen, aber das sorgt für eine schnelle Eskalation der Ereignisse, größere Risiken für die Figuren und viel Spannung.

„Little Brother“ (der Titel stammt von der Idee, dass die Bürger selbst zu „Little Brothers“ werden sollen, die ihrerseits den Staat überwachen und einer Regierung, die ihre Rechte nicht schützt, ihre Unterstützung entziehen) ist bereits 2006 erschienen, aber die Frage, wie die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit aussehen sollte (und ob der Verzicht auf Freiheit überhaupt mehr Sicherheit bringt) ist immer noch brennend aktuell. Meiner Meinung nach ist Doctorow ein kluges, zeitgemäßes Buch gelungen, in dem es viel um neue Technologien und friedliche, kreative Formen des Widerstands geht, aber auch darum, dass gerne auf junge Menschen, ihre politischen Absichten und ihr Engagement herabgesehen wird.

Der Roman ist spannend und leicht zu lesen, die Balance zwischen Momenten, wo man mit den Protagonisten leidet und Angst um sie hat, und zwischen Momenten, wo Marcus trotz allem ein glücklicher Teenager sein darf, der Erwachsene austrickst, die erste große Liebe erlebt und mit Freunden feiert, ist gut gelungen. Es wirkt ein wenig konstruiert, wie ihm die Hinweise und Verbündete begegnen, die ihm in seinem Vorhaben helfen, aber das fällt kaum ins Gewicht.


Figuren

Auf den ersten Blick ist Marcus ein typischer rebellischer Teenager, wenn auch intelligenter, technisch versierter und neugieriger als viele andere. Er betrachtet die Welt auf ganz besondere Weise und tastet nahezu instinktiv jedes System auf seine Schwachstellen ab. Er ist idealistisch und tritt auch dann leidenschaftlich für seine Überzeugungen ein, wenn er weiß, dass dies bei seinem Gegenüber nicht gut ankommen wird, lässt sich aber auch gerne von seiner Impulsivität und seinem Widerspruchsgeist mitreißen und trifft ein paar vorschnelle Entscheidungen. Ein sehr sympathischer Zug an ihm ist seine Neugier: Er liebt Lernen um des Lernens willen und ist immer auf der Suche nach neuen Informationen, die ihn zum Nachdenken anregen, und hinterfragt alles. Mit ihm hat „Little Brother“ einen tatkräftigen Protagonisten, dem man als Leser auf jeden Fall die Daumen drückt, dass er es schafft, den Behörden durch die Finger zu schlüpfen. Vielleicht ist Marcus ein wenig klüger, geschickter, mutiger und integrer, als realistisch ist, aber auch mit diesem Gedanken im Hinterkopf begleitet man ihn gerne und identifiziert sich mit ihm.

Es gibt ein paar undifferenziert unsympathische Figuren wie z.B. die Menschen, die ihn am Anfang des Buches widerrechtlich einsperren oder seinen unausstehlichen Mitschüler Charles, aber die meisten Figuren erscheinen sehr differenziert. Sowohl seine Freundin Vanessa als auch sein Vater, die seine subversiven Aktivitäten mit hilfloser Wut oder Unverständnis betrachten, haben ihre Gründe für ihr Handeln.

Und auch wenn Marcus und seine Mitstreiter „Traue keinem über Fünfundzwanzig“ zu einem ihrer Slogans machen, beweist die Geschichte selbst, dass es nicht so simpel ist, da z.B. Marcus‘ Lehrerin Ms. Galvez die Schüler zum eigenständigen Denken ermutigt und sich mit den rebellierenden Jugendlichen zu identifizieren scheint.

Auch Ange ist nicht bloß eine Trophäe für Marcus, sondern eine gut entwickelte, starke Figur mit Humor und Selbstbewusstsein.


Stil

Auf den ersten Seiten klingt es, als würde der Versuch, Ich-Erzähler Marcus eine betont jugendliche Erzählstimme zu geben, ein wenig übers Ziel hinausschießen, aber dieser Eindruck legt sich rasch. Meist liest sich das Buch schnell und mühelos. Der nicht übertrieben umgangssprachliche, aber einfach und zwanglos gehaltene Stil passt zu Marcus.

Gelegentlich gibt es ziemlich lange Info-Dumps, z.B. über die Funktionsweise bestimmter Geräte oder über Kryptographie, oft mit kleinen Exkursen zur Geschichte bestimmter Technologien und Verschlüsselungsmethoden. Einerseits ist es ein wenig seltsam, dass Marcus dem Leser Dinge erklärt, die für ihn selbst selbstverständlich sind, andererseits passt es zu ihm, weil er seinem Publikum wahrscheinlich unterstellen würde, dass dieses genauso lernbegierig sind wie er, und er Spaß daran zu haben scheint, sein Wissen zu teilen.

An diesen erklärenden Passagen merkt man übrigens auch, dass ein paar Jahre zwischen dem Erscheinen des Buches und der Gegenwart vergangen sind, denn Marcus erläutert ein paar Dinge, die heute selbst für jemanden wie mich keiner Erklärung mehr bedürfen. Von anderen dagegen habe ich zum ersten Mal gehört und fand es ziemlich interessant, mehr über sie zu lernen. Trotzdem kann ich mir vorstellen, dass sich gerade Leser, die noch vertrauter mit der Materie sind, vielleicht ein wenig davon gelangweilt wären.


Fazit

Cory Doctorow hat einen mitreißenden Thriller um neue Technologien, Überwachung und Widerstand geschrieben. „Little Brother“ wird zwar eine jugendliche Zielgruppe besonders ansprechen, aber dank der gut entwickelten Figuren und der aktuellen Thematik ist das Buch für Leser jeden Alters zu empfehlen.


„Little Brother“ (das Buch heißt auch im englischen Original so) wurde von Uwe-Michael Gutzschhahn übersetzt.


Rowohlt E-Book, März 2010

ISBN: 9783644422315

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Es geht um Krebsmagie, um Imperialismus, Kolonialismus und Widerstand, und um eine faszinierende, zerrissene Hauptfigur, die viel(e) opfert, um ein Imperium zu Fall zu bringen. Der Weltenbau ist originell und komplex, die Auseinandersetzung mit Imperialismus und Kolonialismus tiefer, als ich es von dem Genre gewohnt bin. Ähnlich explizit anti-imperial geht es in „Babel“ von R.F. Kuang zu (tatsächlich hätte die Autorin dem Publikum hier und da ein bisschen mehr darin vertrauen können, dass es angesichts der geschilderten Ereignisse schon zu den gleichen Schlüssen kommt wie sie). In einem alternativen magischen Oxford des 19. Jahrhunderts findet der junge Übersetzer Robin intellektuelle Herausforderungen, Luxus und Freundschaft – vorausgesetzt, er spielt weiter brav seine Rolle als Handlanger eines Imperiums, das auf ihn angewiesen ist, aber ihm echte Zugehörigkeit verweigert. Schließlich erreicht Robin einen Punkt, an dem er eine Entscheidung treffen muss. Ein wütendes, mitreißendes Buch voller Wissen zu Geschichte und Linguistik (bei dem ich bei allen seinen Stärken allerdings kritisieren würde, dass bestimmte Figuren sich eher wie Werkzeuge, um bestimmte Punkte zu illustrieren, als wie dreidimensionale Persönlichkeiten anfühlen – Robins Charakterisierung ist jedoch gut gelungen). Außerdem konnte ich eines meiner großen Leseprojekte beenden: Ich habe nun alle zehn Bände des „Malazan Book of the Fallen“ gelesen. Es handelt sich um eine Buchreihe, die eine unglaubliche Bandbreite an Figuren, Schauplätzen, Plots, Registern und Themen abdeckt. Wie in einer so vielfältigen Reihe manchmal nicht anders zu erwarten, konnte ich mit einigen Abschnitten mehr anfangen als mit anderen. Aber die emotionalen Momente sind kraftvoll, die heraufbeschworenen Bilder episch und die Themen der Bücher sehr relevant. Malazan lesen fühlt sich manchmal ein bisschen wie Arbeit an, aber wie Arbeit, die es absolut wert ist. Manchmal scheuen Autor*innen davor zurück, Figuren mit marginalisierten Identitäten moralisch graue oder auch nur unsympathische Züge zu geben. In „Sanguen Daemonis“ ist das nicht der Fall. Anna Zabinis sehr diverses Figurenensemble steckt voller innerer und äußerer Konflikte, und hinzu kommt ein Setting voller Paranoia und Düsternis. Der dystopische Urban-Fantasy-Roman ist antichronologisch erzählt und ist insgesamt angenehm ehrgeizig. „Das Rot der Nacht“ von Kathrin Ils ist ein solider, in sich geschlossener Roman mit einem atmosphärischen, mittelalterlich inspirierten Setting. In der klaustrophobischen Atmosphäre eines von Misstrauen erfüllten Dorfes muss die Protagonistin, Belanca, mit einer sehr gefährlichen Situation umgehen. Im Zuge dessen stellt sie fest, dass mehr in ihr steckt, als erwartet. 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Darüber hinaus ist das Buch spannend, gut geschrieben und wartet mit einer außergewöhnlichen Figurenkonstellation (die Hauptfigur trägt den Geist eines vermeintlich wahnsinnigen Generals mit sich) und einigen überraschenden Wendungen auf. „The Light Brigade“ ist gritty, gesellschaftskritisch und hat mir gefallen, obwohl ich überhaupt kein Fan von Zeitreisegeschichten bin. In einer dystopischen Zukunft kämpfen hier Soldat*innen, die sich in Licht auflösen, um sich dann wieder an ihren Einsatzorten zu manifestieren, gegen einen mysteriösen Feind. Aber schnell bekommt die Protagonistin das Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Kameron Hurley hat ein spannendes, wütendes Buch voller einprägsamer Zitate geschrieben. „Dem Blitz zu nah“ ist vielleicht eher interessant, als dass das Buch Spaß macht – aber dafür ist es wirklich sehr interessant. Ada Palmer entwirft eine Zukunft, in der nicht nur Technologien, sondern auch zum Beispiel der Umgang mit Geschlecht, mit „nationaler“ Zugehörigkeit und vielem mehr radikal geändert haben. Ein Protagonist mit einer sehr dunklen Vergangenheit erzählt unter zahlreichen Bezügen auf die Zeit der Aufklärung von der Verschwörung, die sich unter dem scheinbar utopischen Frieden der „Hives“ verbirgt. Wirklich utopisch geht es in „Pantopia“ zu – allerdings ist der Weg zu der Welt, in der die Menschenrechte das oberste Gebot und ethische Entscheidungen deutlich leichter sind als in der Gegenwart, holprig und voller Ungewissheiten. Und genau über diesen erzählt Theresa Hannig gekonnt. Sie erzählt von überzeugend gezeichneten Figuren, von moralischen Kompromissen und zweiten Chancen, und nicht zuletzt radikal hoffnungsvoll. „How High We Go in the Dark” habe ich quasi zusammen mit einem Buchclub gelesen – allerdings sind einige der Lesenden zwischendrin ausgestiegen und auch ich hatte Schwierigkeiten, das Buch zu beenden. Das liegt aber keineswegs daran, dass Sequoia Nagemutsus ineinander verflochtene Geschichten schlecht wären, sondern vielmehr daran, wie bedrückend nah sich der Roman anfühlt. Es geht um eine Pandemie, Klimawandel und das oft vergebliche Bemühen, geliebte Menschen zu beschützen. In diesem Roman bricht der oft verdrängte Tod mit solcher Macht wieder in unsere Gesellschaft ein, dass den Figuren nichts anderes als eine kollektive Auseinandersetzung damit – und damit, was sie verbindet – übrigbleibt. Sachbuch „Faultiere - Ein Portrait“ von Tobias Keiling, Heidi Liedke und Judith Schalansky (Hg). konnte mich mit seinem originellen Konzept und einer Menge neuem Wissen beeindrucken. Das Buch stellt quasi eine kurze Rezeptionsgeschichte des Faultiers dar, eine Geschichte der Projektionen auf dieses ungewöhnliche Tier, die wiederum viel über die Betrachtenden verraten. In „Entstellt“ von Amanda Leduc verbindet die Autorin autobiografisches Schreiben mit einer Analyse der Darstellung von Menschen mit Behinderungen oder Entstellungen in Märchen und moderner Popkultur.
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