Demnächst erscheint „Das Buch der Augen“ – mein erster Urban-Fantasy-Roman, in dem es ganz klassisch um verborgene Welten und den Kampf gegen dunkle Mächte, aber auch um eine psychische Krankheit geht, die ich in dem Genre bisher relativ selten thematisiert gesehen habe. Für mich ist das ein schöner Anlass, einmal über die sehr positiven Entwicklungen zu schreiben, die ich in Bezug auf die Darstellungen psychischer Krankheiten und Besonderheiten in der Phantastik sehe, und einige sehr gelungene Bücher vorzustellen, in denen solche Themen größeren Raum einnehmen.
Insgesamt hat sich die Phantastik in den letzten Jahren jedoch mehr und mehr Themen wie psychischen Krankheiten und Neurodivergenz zugewendet, was meiner Meinung nach eine Bereicherung für das Genre ist, bringt es doch Vielfalt, eine Chance auf Repräsentation, eine Quelle für ungewöhnliche Konflikte, Realismus (wie glaubwürdig ist es, dass in einem großen Figurenensemble alle neurotypisch sind?) und eine Möglichkeit ein, andere Facetten der Welt zu zeigen.
In einem Artikel in „Roll Inclusive – Diversity und Repräsentation im Rollenspiel“ spricht David Grade z.B. an, wie sich psychische Auffälligkeiten in einem phantastischen Setting anders auswirken könnten, als es die Spielenden aus ihrer Alltagserfahrung gewöhnt sind (er nennt hier das Beispiel von ADHS, die in einer Situation, in der Reizoffenheit und viel Energie lebensrettend sein können, eher Vorteil als Einschränkung sein kann) und wie verschiedene kulturelle Kontexte verschiedene Erklärungsmodelle für und Umgangsweisen mit psychischen Auffälligkeiten hervorbringen.
Brandon Sanderson: Die Sturmlicht-Chroniken (The Stormlight Archives)
Ein gutes Beispiel dafür findet sich in den Sturmlicht-Chroniken von Brandon Sanderson – einer massiven Reihe, um die man eigentlich nicht herumkommt, wenn die Rede auf Repräsentation psychischer Auffälligkeiten oder Störungen in der Phantastik kommt. Hier sind die psychischen Probleme der Hauptfiguren (Depressionen, Dissoziative Personlichkeitsstörung, etc.) eng mit ihrer Charakterentwicklung, aber auch mit der Magie der Welt verbunden. Auch wenn die Begrifflichkeiten andere sind, ist es sehr spannend zu sehen, wie die Figuren sich mit diesen Auffälligkeiten auseinandersetzen.
Gerade im vierten Band (bzw. im siebten und achten Band der deutschsprachigen Ausgaben) geht es auch darum, Figuren mit psychischen Auffälligkeiten oder Problemen zu helfen oder aber ihr Umfeld an ihre Bedürfnisse anzupassen, sodass sie ihr Potenzial entfalten können. So entwickelt eine Figur aus ihren eigenen Bedürfnissen heraus etwas, das an Gruppentherapie erinnert, und eine andere nimmt eine junge Wissenschaftlerin mit ADHS-Symptomen unter ihre Fittiche.
Mary Robinette Kowal: Die Berechnung der Sterne (The Calculating Stars)
In „The Calculating Stars“ (das Buch erscheint Anfang 2022 als „Die Berechnung der Sterne“ auch auf Deutsch) lernen wir Elma kennen, eine brillante Mathematikerin, die in einer alternativen Version der 50er Jahre an einem ehrgeizigen Raumfahrtprogramm arbeitet. Die Zeit dafür drängt, denn nach einem Meteoriteneinschlag bleiben der Menschheit nur noch Jahrzehnte, bis die Erde unbewohnbar wird.
Während Elma als Pilotin mutige Manöver fliegt und gegen den Widerstand einer sexistischen Gesellschaft eine der ersten Frauen im Weltraum sein möchte, gibt es immer wieder Situationen, in denen soziale Ängste sie hemmen. Die Panik, die öffentliche Auftritte bei ihr auflösen, macht es ihr mehrfach schlichtweg unmöglich, ihre Ideen selbst zu vertreten. Und es nicht leicht für sie, sich Hilfe zu suchen, denn offen zu ihren Problemen zu stehen, könnte ihre Arbeit gefährden.
Das Buch bildet meiner Meinung nach gut ab, wie einschränkend solche Ängste sein können, aber auch, dass eben noch viel mehr zu Elmas Persönlichkeit gehört.
Eleanor Bardilac: Knochenblumen welken nicht
Eleanor Bardilacs „Knochenblumen welken nicht“ spielt in einer Stadt in einer Sekundärwelt, die an Wien im späten 19. Jahrhundert erinnert. Hier wird dem exzentrischen Nekromanten Marius die Verantwortung für Aurelia anvertraut, die nach Jahren der Betäubung durch Drogen und sozialer Isolation Zeugin eines Mordes wurde und ihre magischen Kräfte nicht länger verstecken kann.
Vor dem Hintergrund einer Mordserie, die eng mit einem der düsteren Aspekte des Settings verbunden ist, findet Aurelia allmählich einen Weg aus dem Nebel, kann langsam wieder klarer denken und Stellung beziehen. Das Buch zeigt eine Figur, die in vielen Situationen Klugheit, Entschlossenheit und auch großen Mut zeigt, aber zum Beispiel trotzdem nicht in der Lage ist, allein einkaufen zu gehen. Auch die langsame Rückkehr zu einer klareren Wahrnehmung der Welt fühlt sich ein wenig wie eine Metapher für den Weg aus einer depressiven Episode an, die zuvor das Denken lähmte und die Wahrnehmung filterte.
Maja Ilisch: Die Neraval-Sage
In Maja Ilischs Neraval-Sage (bisher sind Band eins und zwei, „Das gefälschte Siegel“ und „Das gefälschte Herz“) erschienen, treffen gleich mehrere markante Persönlichkeiten, alle mit einer Menge psychischem Ballast, aufeinander. Da ist z.B. der charismatische, manipulative Prinz Tymur oder der Fälscher Kevron, der lange komplett im Griff von Sucht und Paranoia war und noch immer damit kämpft.
Die beiden und ihre Reisegefährten treten eine Reise an, um die Wahrheit über ein magisches Artefakt herauszufinden und ihre Welt zu schützen (auch wenn sich schnell herausstellt, dass sie auf der Basis einiger sehr unzuverlässiger Informationen handeln), aber statt eine weite Welt zu eröffnen, fühlt sich die Situation immer klaustrophobischer an, weil die Figuren immer wieder aufeinander und auf ihre Probleme zurückgeworfen werden. Die intensiven, oft zerstörerischen Gefühle und Beziehungen der Figuren werden mit großer Eindringlichkeit geschildert.
Mishell Baker: The Arcadia Project
Eine meiner absoluten Lieblings-Urban-Fantasy-Serien ist „The Arcadia Project“ von Mishell Baker. Die drei Bücher („Borderline“, „Phantom Pains“ und „Imposter Syndrome“) erzählen nicht nur eine originelle Geschichte rund um das heikle diplomatische Verhältnis von Menschen- und Feenwelt und bieten eine Menge scharfzüngigen Witz, sie zeichnen auch ein empathisches Porträt ihrer Hauptfigur, für die ihre Borderline-Störung und Körperbehinderung immer wieder Probleme aufwerfen.
Melanie Vogltanz: Shape me
„Shape Me“ von Melanie Vogltanz erkundet nicht nur die beunruhigenden Konsequenzen von Körpertausch-Technologien und staatlicher Kontrolle von Gesundheit und Essverhalten der Bevölkerung, sondern auch das komplizierte Verhältnis, dass viele Menschen zu ihren angreifbaren, imperfekten Körpern, zu Essen, Genuss, Kontrolle und ihrer Identität haben. Ein sehr dichter, spannungsreicher Science-Fiction-Roman.
Ein schwieriges Verhältnis zum eigenen Körper und die oft langanhaltenden, zerstörerischen Auswirkungen von Fatshaming werden z.B. auch in so verschiedenen Büchern wie „Der Atem einer anderen Welt“ von Seanan McGuire und der „Licht“-Saga von Brent Weeks thematisiert.
Ich bin sehr froh darüber, dass es mittlerweile viele Schreibende gibt, deren empathische Portraits von psychischen Problemen betroffener Figuren mich beeindruckt haben oder sogar eine Inspiration für mich waren, meine persönlichen Erfahrungen mit der Thematik ebenfalls literarisch zu verarbeiten, weil sie mir gezeigt haben, dass es in der Phantastik einen Platz für Figuren mit psychischen Auffälligkeiten gibt.