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Gedanken zu Genres: Was ist eigentlich Hochliteratur?

Swantje Niemann • 3. August 2020
Bild (Teetasse auf einem Bücherstapel) von Ylanite Koppens auf Pixabay
Ich schlage ein kleines Experiment vor: Sprecht einen Fantasy-Fan an, und erwähnt das Wort „Hochliteratur“. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass euch als Antwort eine Tirade darüber erwartet, wie die akademische Welt hochinteressante Genre-Literatur ignoriert, dass Hochliteratur nur aus langweiligen Texten besteht, mit denen Schulen und Universitäten Lernende quälen, und dass Shakespeare auch Fantasy geschrieben hat. Vielleicht haben sie auch noch einen spöttischen Kommentar über Ian McEwan übrig, der darauf bestand, dass sein Roman über künstliche Intelligenz auf gar keinen Fall Science Fiction sein könne, weil er ja den Fokus darauf lege, welche ethischen Dilemmata und psychologischen und philosophischen Implikationen diese habe. 
Darüber, was Hochliteratur eigentlich ist und was einen Text „literarisch“ macht, gibt es viele Meinungen und noch mehr vage „Ich erkenne es, wenn ich es sehe“-Einstellungen. Und das hat mich inspiriert, diesen Artikel zu schreiben, in welchem ich zwei Fragen zu beantworten versuche: Was ist Hochliteratur? Und ist sie besser als ihr Ruf?
Letzteres ist nicht wirklich schwer, immerhin fühlt sich „Hochliteratur“ oder gar „Höhenkammliteratur“ zu sagen ein wenig an, als würde man mit Staub gurgeln. Ich nehme kurz eine Hand von der Tastatur, um zu checken, ob meine Haare in den letzten Sekunden ein wenig grau geworden sind. Okay, sind sie nicht. Also weiter im Text. Dieser Artikel definiert Hochliteratur als Literatur, die inhaltlich, formal und stilistisch innovativ sei und zum Nachdenken anrege. Dadurch unterscheide sie sich von der Populärliteratur, welche mit etablierten Formen arbeite, primär unterhalten wolle und gerade beliebte Themen aufgreife, und von der Trivialliteratur, welche quasi Populärliteratur mit Stereotypen und allzu einfachen Lösungen sei. 
Der Artikel weist jedoch auch auf die Probleme des Begriffs hin, denn Literatur, die in ihrer Zeit als populär und unterhaltsam galt, sei später als Hochliteratur anerkannt worden, und auch viel Populärliteratur der Gegenwart könne spannend und lehrreich sein. Ebenso, möchte ich ergänzen, kann die Lektüre von Hochliteratur Spaß machen. Um Lesende bei der Stange zu halten, müssen Autor*innen von Hochliteratur das Handwerkszeug meistern, dass auch ihre kommerzieller denkenden Kolleg*innen nutzen, um ihre Texte attraktiv zu machen.
Die Wikipediaseite zu „literary fiction“ stellt einen Gegensatz zwischen Literary Fiction und Genre Fiction und „Commercial Fiction“ auf, aber erwähnt gleichzeitig, dass z.B. anerkannte LitFic-Autorin Margaret Atwood auch letztere geschrieben habe. Ian McEwan habe ich ja bereits erwähnt. Auf der Seite sind mehrere Kriterien für Literary Fiction gelistet:
  •  Sie sei gesellschaftskritisch oder setzte sich mit der „Human Condition“ auseinander.
  • Sie sei introspektiv und lege den Fokus auf die Entwicklung interessanter Figuren.
  • Die Handlung schreite langsamer fort.
  • Sie sei komplex und stilistisch besonders interessant.
  • Der Plot sei weniger wichtig als bei „commercial fiction“
  • Sie sei auch oft düsterer als diese.
Die Gegenüberstellung „düstere, aufwühlende Literary Fiction vs. Heile-Welt-Genre-Fiction“, die auch in dem zuvor wiedergegebenen Artikel auftaucht, irritiert angesichts der Hochkonjunktur von Dystopien und gnadenlosen Fantasywelten in der Genre-Fiction der letzten dreißig Jahre ein wenig, aber mit anderen Kriterien lässt sich schon mehr anfangen.  
Mark Lawrence hat kürzlich auf seiner Facebookseite auch nach Definitionen für „Literary Fiction“ gefragt, und seine eigene Interpretation angeboten, bei der es bei Hochliteratur vor allem darum ginge, „themes“ zu erkunden – unabhängig vom Genre. Ich halte das für einen ziemlich nützlichen Debattenbeitrag, denn er hat mich zu dem Gedanken geführt, dass der Hauptunterschied zwischen „Hoch“-, und „Unterhaltungsliteratur“ für mich darin liegt, wie wir darüber reden. Wenn Rezensionen und Analysen uns fragen, was uns das Buch uns beibringt und außerdem innovative sprachliche und stilistische Entscheidungen gelobt werden, ist es Hochliteratur. Wenn Rezensionen und Analysen vor allem um Plot, Spannung und darum kreisen, ob und warum Figuren sympathisch sind: keine Hochliteratur. In der Wissenschaft werden bei ersterer einzelne Werke tiefgehend untersucht, bei letzterer viele Bücher ausgewertet, um Trends zu identifizieren. 
Allerdings macht diese Unterscheidung das Gegensatzpaar „literary“ und „genre fiction“ ziemlich nutzlos, da sie definitiv „literary fantasy“ zulässt. Das Adjektiv „literary“ ist jedoch nicht nutzlos, da es durchaus etwas über Stil und Inhalt des Buches und die Reaktion, die es bei vielen Lesenden auslöste (e.g. Nachdenken, eine veränderte Perspektive), aussagt.
Gleichzeitig ist es eine Unterscheidung, die auf der Rezipient*innenseite erfolgt – es ist durchaus möglich, die Kriterien von Unterhaltungsliteratur (Ergibt der Plot Sinn? Ist das Buch spannend?) an Hochliteratur anzulegen (auch wenn dabei eine Menge Aspekte unbeachtet bleiben), und zu fragen, was uns ein vermeintlich triviales Buch sagen will.
Und bei der Rezeption spielen auch Halo-Effekte eine Rolle: Hat di*er Autor*in bereits anerkanntermaßen Hochliteratur geschrieben? Dann kann ihr aktuelles Buch über Unsterbliche/Roboter/eine dystopische Zukunft keine Genre Fiction sein. Leider spielt hierbei auch das Geschlecht der Schreibenden eine Rolle, müssen sich Frauen doch deutlich mehr hervortun, um als innovativ anerkannt zu werden. Ebenso hat es auch etwas mit regionaler Kultur zu tun, wo und wie scharf die Trennlinie zwischen Hoch- und Populärliteratur gezogen wird.
Tja, und mein Fazit:
  1. „Hochliteratur“ ist ein klobiger Begriff, der staubig und arrogant klingt, aber er ist nicht inhaltsleer. 
  2.  Trotzdem ist „Hochliteratur“/“literary fiction“ bei weitem kein objektiver Begriff. Faktoren, die nichts mit dem Werk selbst zu tun haben, spielen eine Rolle, darunter Vorurteile gegenüber bestimmen Gruppen von Schreibenden oder bestimmten Genres.
  3. Das Genre, in welchem ein Buch erschienen ist, hat eigentlich keinen Einfluss darauf, wie „literarisch“ das Buch ist, dafür jedoch die Frage, ob das Buch Genrekonventionen folgt, oder innovative Dinge mit Stil, Charakteren und Plot anstellt.
  4. Eine Frage, mit der ich zurückbleibe: Ab welchem Verhältnis von Innovation und Konvention ist ein Buch literarisch? Kann ein Buch literarische Passagen in einem ansonsten eher trivialen Text haben und triviale Aspekte in einem ansonsten überwiegend literarischen Werk? Hm.
  5. Wir brauche mehr Raum für literary SFF, gerade in Deutschland, wo das Potenzial dieser Genres, Fragen über Mensch, Natur und Gesellschaft aufzuwerfen und überraschend zu beantworten, sowie spannende stilistische Experimente durchzuführen, gerne unterschätzt wird
  6. Um noch mal auf Punkt zwei zurückzukommen: Leute, die sagen, dass ein Buch keine Fantasy/SFF mehr ist, weil es „zu gut“ ist, nerven
  7. Ich würde nicht von einer Hierarchie zwischen literary fiction und nicht-literary-fiction ausgehen, sondern eher von einer Aufgabenteilung

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Ich habe in den letzten Monaten nicht nur eine Menge interessanter Romane gelesen, sondern auch spannende, informative Sachbücher für mich entdeckt. Hier ist eine Auswahl: Outlaw Ocean von Ian Urbina ist aus einer Sammlung von investigativen Recherchen hervorgegangen, die sich alle um das Meer drehen. Ian Urbina erforscht, wie verschiedenste Personen und Unternehmen für sich ausnutzen, dass sie sich auf internationalen Gewässern leicht rechtlichen Einschränkungen und Kontrollen entziehen können. Er verfolgt unter anderem mit Umweltschützer:innen illegale Fischereischiffe, forscht moderner Sklaverei auf den Meeren nach und erzählt die Geschichten blinder Passagiere. Outlaw Ocean ist ein fesselndes Buch, das ein Schlaglicht auf die Ausbeutung von Menschen und Natur auf den Meeren wirft und auch spannende Einblicke in die Arbeitsweise und Erfahrungen des Autors als investigativer Journalist gibt. Das Klimabuch , herausgegeben von Greta Thunberg, ist eine Sammlung von Artikeln, die den Klimawandel, dessen Hintergründe und mögliche Gegenmaßnahmen aus vielen verschiedenen Perspektiven erklären. Darunter sind zugängliche Erklärungen der physikalischen, ökologischen und meteorologischen Verflechtungen, vor deren Hintergrund erst klar wird, was für ein großes Problem der Klimawandel ist. Die Texte sind gut ausgesucht und werden von Fotos und hilfreichen Grafiken begleitet. Viele von ihnen stammen von Menschen, für die die Klimakrise nicht länger eine nebulöse Bedrohung in der Zukunft, sondern längst angekommen ist. Auch in Fen, Bog and Swamp von Annie Proulx geht es unter anderem um das Klima – genauer gesagt, um die Rolle, die Moore, Sümpfe und Fenns für dieses und für Artenvielfalt spielen. Das Buch ist eine ebenso poetische wie für die relevante Geschichte von Feuchtgebieten und deren Rezeption und Zerstörung durch Menschen. In Klassenbeste analysiert Marlen Hobrack anhand der Geschichte ihrer Familie – vor allem der ihrer Mutter, aber auch ihrer Großmutter und ihrer eigenen –, was es für sie bedeutet hat und bedeutet, Frau, Arbeiterin, Ostdeutsche und Mütter zu sein. Sie nimmt dabei mit Frauen aus der Arbeiterklasse eine Kategorie in den Fokus, die jeweils in Diskursen über Geschlecht und über Klasse häufig ausgeblendet wird. Das Buch bietet auf kleinem Raum viele Infos und auch konkrete Handlungsaufforderungen. Mythos Bildung von Aladin El-Mafaalani bietet ebenfalls eine hohe Dichte von Informationen und ist dabei sehr zugänglich geschrieben. Es handelt sich um eine soziologische Analyse der Bildungslandschaft in Deutschland, in welcher der Begriff des Habitus eine Schlüsselrolle spielt. El-Mafaalani analysiert, ob und zu welchen Bedingungen ein gesellschaftlicher Aufstieg möglich ist und zeigt auf, dass es eine starke Bildungsexpansion gegeben hat, dass also alle gebildeter werden, aber dass sich dabei auch Ungleichheiten vergrößert haben. Die Lösungsvorschläge, die er für Ungleichheiten im Bildungssystem macht, haben meiner Meinung nach eine gute Balance aus Ehrgeiz und Pragmatismus.
Die Bücher
von Swantje Niemann 9. Juli 2024
Ich habe in der ersten Jahreshälfte wieder einige Buchentdeckungen gemacht. Hier ist ein Zwischenbericht: Fantasy Blood over Bright Haven von M.L. Wang erzählt mit großer emotionaler Intensität die Geschichte der brillanten, ehrgeizigen Magierin Sciona, die sich in einer feindseligen Universität durchsetzen muss – und über eine Wahrheit stolpert, welche ihr gesamtes Weltbild ins Wanken bringt. Das Buch ist nicht subtil in seinen Aussagen zu Rassismus und Sexismus, aber sie sind interessant und komplex genug (z.B. was das Ineinandergreifen von Rassismus, Sexismus, Klassismus und die sehr engen Grenzen des Feminismus der Hauptfigur betrifft), dass das nicht negativ ins Gewicht fällt.  Robert Jackson Bennetts The Tainted Cup verbindet gleich mehrere Genres: High Fantasy mit originellem Worldbuilding trifft hier auf einen klassischen Krimi-Plot mit einem exzentrischen Ermittler*innen-Duo, während im Hintergrund eine Katastrophe abgewendet werden muss. Das Resultat ist originell und sehr zufriedenstellend. Mit The Book that Wouldn’t Burn beginnt Mark Lawrence eine neue Trilogie, die gut genug geschrieben ist, um mich darüber hinwegsehen zu lassen, dass einige Elemente des Plots (z.B. Zeitreisen) eigentlich gar nicht mein Ding sind. Das Setting ist eine gigantische Bibliothek, die Fokus eines uralten Streits um das zweischneidige Schwert des Wissens ist. Was mich überrascht hat: die überraschend süße Liebesgeschichte, die eine große Rolle für den Roman und seinen Folgeband spielt. Urban Fantasy Naomi Noviks Scholomance -Trilogie ist eine kurze YA-Reihe, die auch erwachsene Leser*innen überzeugen kann. Sie wartet mit einer originellen Variante einer Zauberschule und einer Protagonistin auf, die äußerst schlecht gelaunt das Richtige tut und deren Erzählstil die düsteren Aspekte des Settings auf Distanz hält. Das besondere an der Reihe ist, dass sie ihre Figuren nicht wirklich gegen Antagonist*innen, sondern gegen ein systemisches Problem arbeiten – und dass es, was bei solchen Ausgangssituationen nicht sehr häufig ist, trotzdem eine optimistische Geschichte ist. In Ink Blood Sister Scribe von Emma Törsz geht es um zwei Halbschwestern, deren Leben auf sehr verschiedene von der Sammlung magischer Bücher bestimmt wird, die ihre Familie hütet. Das Buch beginnt, als sie sich nicht länger vor ihren Gegenspieler*innen verbergen können. Das Figurenensemble ist klein und statt einer ausgreifenden verborgenen Welt gibt es hier nur einige wenige übernatürliche Elemente. Figuren und Magie sind aber sorgfältig ausgearbeitet und greifen gut ineinander. Ink Blood Sister Scribe nimmt sich viel Zeit für atmosphärische, präzise Beschreibungen. Es ist auch mal wieder original deutschsprachige Fantasy dabei: Noah Stoffers reiht sich mit A Midsummer’s Nightmare in die Reihe der Autor*innen ein, die den Dark-Academia-Trend aufgreifen. Protagonist*in Ari muss die übernatürlichen Geheimnisse einer elitären, altehrwürdigen Universität erkunden, bevor diese Ari und Aris Freund*innen gefährlich werden. Stoffers setzt aus anderen Büchern des Subgenres wie zum Beispiel „Das neunte Haus“ bekannte Elemente gekonnt um (z.B. auch das Topos marginalisierter Figuren, die Außenseiter*innen in einer Hochburg alter Privilegien sind). Sier ergänzt eine großzügige Prise originelles Worldbuilding und stellt eine nicht-binäre Figur ins Zentrum, was insbesondere in der deutschsprachigen Phantastik bisher ziemlich selten ist. Das fügt sich alles zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Science Fiction Mit Arboreality hat Rebecca Campbell einen berührenden Roman aus ineinandergreifenden Geschichten geschrieben, in denen Menschen und Bäume die Klimakrise überdauern. Sie schildert eine nahe Zukunft voller Melancholie und Hoffnung. Weitaus bissiger geht es in Venomous Lumpsucker von Ned Beauman zu. Der Near-Future-Roman denkt Trends der Gegenwart weiter und fügt sie zu einem temporeichen Thriller rund um Umweltzerstörung und den Verlust von Artenvielfalt zusammen, mit einer Menge gezielter Seitenhiebe und dunkler Situationskomik. Exordia von Seth Dickinson ist ein abgedrehter First-Contact-Roman, der wild Genres mixt und seine Figuren immer wieder vor moralische Dilemmata stellt – inklusive der Entscheidung über das Schicksal der Erde. Humor, Schrecken und emotional berührende Momente liegen hier dicht beieinander. Das Buch greift auch die Geschichte der Kurden und amerikanischer Interventionen im Nahen Osten auf. Ich bin endlich dazu gekommen, Machineries of Empire von Yoon Ha Lee zu beenden. Dabei handelt es sich umi eine Science-Fantasy-Trilogie rund um ein interstellares Imperium, in dem Mathematik und Rituale die Realität verändern können und die Funktion von Technologie vom Einhalten des imperialen Kalenders abhängt. Wer sich auf die steile Lernkurve des Buches einlässt, wird mit einer mitreißenden Geschichte, einer farbenprächtigen Welt, relevanten Themen und charismatischen Figuren belohnt (insbesondere Shuos Jedao, der untote General, der eine Schlüsselrolle für die Bücher spielt).
Vier der im Beitrag beschriebenen Bücher in einem weißen Regal
von Swantje Niemann 28. Dezember 2023
Ich habe dieses Jahr wieder einige Bücher entdeckt, die ich nur zu gerne weiterempfehle.
Bild einer etwas krakeligen Mindmap
von Swantje Niemann 20. November 2023
Gleich noch ein spannendes Team-Projekt!
Cover des Romans
von Swantje Niemann 4. November 2023
"Königsgift" und seine ungewöhnliche Entstehungsgeschichte
Die Bücher
von Swantje Niemann 22. April 2023
Die Liste der Bücher, die sich mir 2022 eingeprägt haben, ist mal wieder sehr lang geworden. Hier sind ein paar davon: Fantasy 2022 habe ich die „Green Bone“-Saga beendet und zusätzlich die Novelle „The Jade Setter of Janloon“ gehört. Fonda Lee führt die Geschichte um den No-Peak-Clan zu einem sehr befriedigenden Ende und weitet immer weiter aus, wie viel von ihrer sehr modern und realistisch anmutenden Sekundärwelt ihre Geschichte abdeckt. Sie schreibt charismatische, moralisch ambige Figuren, die sich beim Lesen ins Gedächtnis schreiben und deren Überzeugungen und Charakterzüge überzeugende Wechselwirkungen mit ihrer Gesellschaft haben. Ich habe im letzten Jahr auch den bisher neuesten Band der „Masquerade“-Reihe von Seth Dickinson gelesen. „The Tyrant Baru Cormorant“ ve rvollständigt das relativ unbefriedigende „The Monster Baru Cormorant“ zu einem schließlich doch sehr überzeugenden Ganzen. Es geht um Krebsmagie, um Imperialismus, Kolonialismus und Widerstand, und um eine faszinierende, zerrissene Hauptfigur, die viel(e) opfert, um ein Imperium zu Fall zu bringen. Der Weltenbau ist originell und komplex, die Auseinandersetzung mit Imperialismus und Kolonialismus tiefer, als ich es von dem Genre gewohnt bin. Ähnlich explizit anti-imperial geht es in „Babel“ von R.F. Kuang zu (tatsächlich hätte die Autorin dem Publikum hier und da ein bisschen mehr darin vertrauen können, dass es angesichts der geschilderten Ereignisse schon zu den gleichen Schlüssen kommt wie sie). In einem alternativen magischen Oxford des 19. Jahrhunderts findet der junge Übersetzer Robin intellektuelle Herausforderungen, Luxus und Freundschaft – vorausgesetzt, er spielt weiter brav seine Rolle als Handlanger eines Imperiums, das auf ihn angewiesen ist, aber ihm echte Zugehörigkeit verweigert. Schließlich erreicht Robin einen Punkt, an dem er eine Entscheidung treffen muss. Ein wütendes, mitreißendes Buch voller Wissen zu Geschichte und Linguistik (bei dem ich bei allen seinen Stärken allerdings kritisieren würde, dass bestimmte Figuren sich eher wie Werkzeuge, um bestimmte Punkte zu illustrieren, als wie dreidimensionale Persönlichkeiten anfühlen – Robins Charakterisierung ist jedoch gut gelungen). Außerdem konnte ich eines meiner großen Leseprojekte beenden: Ich habe nun alle zehn Bände des „Malazan Book of the Fallen“ gelesen. Es handelt sich um eine Buchreihe, die eine unglaubliche Bandbreite an Figuren, Schauplätzen, Plots, Registern und Themen abdeckt. Wie in einer so vielfältigen Reihe manchmal nicht anders zu erwarten, konnte ich mit einigen Abschnitten mehr anfangen als mit anderen. Aber die emotionalen Momente sind kraftvoll, die heraufbeschworenen Bilder episch und die Themen der Bücher sehr relevant. Malazan lesen fühlt sich manchmal ein bisschen wie Arbeit an, aber wie Arbeit, die es absolut wert ist. Manchmal scheuen Autor*innen davor zurück, Figuren mit marginalisierten Identitäten moralisch graue oder auch nur unsympathische Züge zu geben. In „Sanguen Daemonis“ ist das nicht der Fall. Anna Zabinis sehr diverses Figurenensemble steckt voller innerer und äußerer Konflikte, und hinzu kommt ein Setting voller Paranoia und Düsternis. Der dystopische Urban-Fantasy-Roman ist antichronologisch erzählt und ist insgesamt angenehm ehrgeizig. „Das Rot der Nacht“ von Kathrin Ils ist ein solider, in sich geschlossener Roman mit einem atmosphärischen, mittelalterlich inspirierten Setting. In der klaustrophobischen Atmosphäre eines von Misstrauen erfüllten Dorfes muss die Protagonistin, Belanca, mit einer sehr gefährlichen Situation umgehen. Im Zuge dessen stellt sie fest, dass mehr in ihr steckt, als erwartet. Science-Fiction Ich bin durch einen Artikel namens „The Edgy Writing of Blindsight“ auf Peter Watts Roman gestoßen und auch wenn ich nachvollziehen kann, wieso die Verfasserin nichts mit dem Buch anfangen konnte, war meine Neugier durch die Zitate geweckt – und ich bin froh darüber, das Buch gelesen zu haben. „Blindsight“ ist ehrgeizig, vollgestopft mit Ideen und eine ebenso düstere wie hypnotische Kombination aus Science Fiction und Cosmic Horror. Das Buch wartet mit einem kühnen Gedankenexperiment zu Intelligenz und Bewusstsein und mit einer starken zentralen These auf, der man nicht zustimmen muss, um etwas von dem Buch zu haben. Ich verstehe das Worldbuilding von „Ninefox Gambit“ zugegebenermaßen immer noch nicht komplett, aber diese Welt mit einem Imperium, dass einen speziellen Kalender befolgt und verteidigt und Macht aus diesem zieht, ist ebenso überwältigend, wie sie spannend ist. Darüber hinaus ist das Buch spannend, gut geschrieben und wartet mit einer außergewöhnlichen Figurenkonstellation (die Hauptfigur trägt den Geist eines vermeintlich wahnsinnigen Generals mit sich) und einigen überraschenden Wendungen auf. „The Light Brigade“ ist gritty, gesellschaftskritisch und hat mir gefallen, obwohl ich überhaupt kein Fan von Zeitreisegeschichten bin. In einer dystopischen Zukunft kämpfen hier Soldat*innen, die sich in Licht auflösen, um sich dann wieder an ihren Einsatzorten zu manifestieren, gegen einen mysteriösen Feind. Aber schnell bekommt die Protagonistin das Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Kameron Hurley hat ein spannendes, wütendes Buch voller einprägsamer Zitate geschrieben. „Dem Blitz zu nah“ ist vielleicht eher interessant, als dass das Buch Spaß macht – aber dafür ist es wirklich sehr interessant. Ada Palmer entwirft eine Zukunft, in der nicht nur Technologien, sondern auch zum Beispiel der Umgang mit Geschlecht, mit „nationaler“ Zugehörigkeit und vielem mehr radikal geändert haben. Ein Protagonist mit einer sehr dunklen Vergangenheit erzählt unter zahlreichen Bezügen auf die Zeit der Aufklärung von der Verschwörung, die sich unter dem scheinbar utopischen Frieden der „Hives“ verbirgt. Wirklich utopisch geht es in „Pantopia“ zu – allerdings ist der Weg zu der Welt, in der die Menschenrechte das oberste Gebot und ethische Entscheidungen deutlich leichter sind als in der Gegenwart, holprig und voller Ungewissheiten. Und genau über diesen erzählt Theresa Hannig gekonnt. Sie erzählt von überzeugend gezeichneten Figuren, von moralischen Kompromissen und zweiten Chancen, und nicht zuletzt radikal hoffnungsvoll. „How High We Go in the Dark” habe ich quasi zusammen mit einem Buchclub gelesen – allerdings sind einige der Lesenden zwischendrin ausgestiegen und auch ich hatte Schwierigkeiten, das Buch zu beenden. Das liegt aber keineswegs daran, dass Sequoia Nagemutsus ineinander verflochtene Geschichten schlecht wären, sondern vielmehr daran, wie bedrückend nah sich der Roman anfühlt. Es geht um eine Pandemie, Klimawandel und das oft vergebliche Bemühen, geliebte Menschen zu beschützen. In diesem Roman bricht der oft verdrängte Tod mit solcher Macht wieder in unsere Gesellschaft ein, dass den Figuren nichts anderes als eine kollektive Auseinandersetzung damit – und damit, was sie verbindet – übrigbleibt. Sachbuch „Faultiere - Ein Portrait“ von Tobias Keiling, Heidi Liedke und Judith Schalansky (Hg). konnte mich mit seinem originellen Konzept und einer Menge neuem Wissen beeindrucken. Das Buch stellt quasi eine kurze Rezeptionsgeschichte des Faultiers dar, eine Geschichte der Projektionen auf dieses ungewöhnliche Tier, die wiederum viel über die Betrachtenden verraten. In „Entstellt“ von Amanda Leduc verbindet die Autorin autobiografisches Schreiben mit einer Analyse der Darstellung von Menschen mit Behinderungen oder Entstellungen in Märchen und moderner Popkultur.
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von Swantje Niemann 13. April 2023
Zwei sehr verschiedene Bücher erzählen beide in der ersten Person. Ich schaue mir mal genauer an, was ihren Ansatz dabei unterscheidet und wieso das in beiden Fällen sehr gut funktioniert.
Titelseite einer Ausgabe von
26. November 2022
Zusammenfassung, Rezension und ein bisschen Literaturepochen-Kontext
Rostige Krone liegt auf Moos
von Swantje Niemann 12. September 2022
Ein paar Überlegungen zu einem Lieblingstrope des Fantasygenres.
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